Süddeutsche Zeitung

Wil van der Aalst:Aus der Forschung in die Praxis

Der Mathematiker Wil van der Aalst hat die Technologie erfunden, die das Münchner Unternehmen Celonis zur Milliardenfirma gemacht hat. Nun wird er dort Chef-Wissenschaftler.

Von Helmut Martin-Jung

Am Anfang stand ein Irrtum, ein gewaltiger Irrtum. Wil van der Aalst, Mathematiker an der Technischen Universität Eindhoven, war in den 1990er-Jahren der festen Überzeugung, man müsse doch die Arbeitsabläufe in Firmen zu einer Art Idealbild modellieren können. Und verhielte man sich dann auch so, gäbe es große Effizienzgewinne. Die Wirtschaft war sehr interessiert, es wurde Software dafür entwickelt und auch gekauft. "Aber sie wurde nie wirklich benutzt", musste van der Aalst schließlich feststellen, "viele Projekte scheiterten."

Er entwickelte schließlich eine neue Methode - eine, die heute weltweit in vielen Unternehmen erfolgreich eingesetzt wird. Marktführer beim sogenannten Process-Mining ist die Münchner Firma Celonis, die inzwischen mit mehr als zehn Milliarden Dollar bewertet wird. Van der Aalst, 55, hat sich entschieden, dort künftig als Chief Scientist zu arbeiten, neben seiner Tätigkeit als Professor in Aachen.

Auf die Idee zum Process-Mining brachte ihn eine eigentlich recht simple wissenschaftliche Frage: Wenn sich die Wirklichkeit nicht an die Prozesse hält, die sich Menschen ausdenken, kann man dann vielleicht aus den Prozessen selbst etwas ableiten? Und ob, wie sich bald zeigte. Vorgänge in Firmen hinterlassen Spuren in Computersystemen, zum Beispiel dem von SAP. "Das sind immer Tabellen mit Spalten voller Daten und Zeitstempeln", sagt van der Aalst. Diese Daten würden verwendet, um daraus den tatsächlichen Ablauf von Prozessen abzuleiten.

"Die Menschen denken immer, Prozesse seien kompliziert"

Wie ist der Verlauf, was kommt häufig vor, was dauert lange - mit Fragen wie diesen lassen sich recht einfache Daten ableiten, und sie führen schließlich zu einem Modell, das zeigt, wie die Prozesse in Firmen wirklich ablaufen und wo es hakt. "Die Leute sind oft erstaunt, dass man dadurch Dinge zeigen kann, die neu sind für die Menschen, die tagtäglich mit diesen Prozessen arbeiten."

Dabei sei der Großteil von Prozessen in Firmen eigentlich einfach. "Die Menschen denken immer, Prozesse seien kompliziert", so der Mathematiker, "aber 80 Prozent sind tatsächlich einfach." Die Komplexität stecke in den restlichen 20 Prozent, "die verursachen 80 Prozent der Probleme". Mit seiner Methode lassen sich Engpässe ermitteln. "Die Gründe werden klar", sagt van der Aalst, "das ermöglicht Vorhersagen." Die Firma Celonis, die auf das von ihm entwickelte Process-Mining eher zufällig gestoßen war, spiele dabei eine wichtige Rolle. Sie wandle die damit entdeckten Erkenntnisse in Aktionen um.

Wil van der Aalst, der seine wissenschaftliche Karriere in Eindhoven begann, lehrt nun an der RWTH Aachen. "Ich habe immer geforscht, aber auch Leute dafür begeistert zu gründen", sagt er über sich. Er habe immer unabhängig bleiben wollen, auch wenn er viele Firmen unterstützt habe. "Aber es hat sich etwas geändert", sagt er. Lange Zeit habe die Forschung einen Vorsprung vor den Firmen gehabt, die seine Technologie einsetzten. Jetzt aber entwickelten Firmen wie eben Celonis auch automatisierte Aktionen, um Engpässe in Prozessen von vorneherein abzufangen.

Weil es viele Fragen gebe, die man nur beantworten könne, wenn man die Technologie täglich einsetze, habe er sich deshalb entschieden, bei einem Unternehmen einzusteigen. Die Wahl fiel auf Celonis, weil das Münchner Unternehmen 60 bis 70 Prozent des Marktes beherrsche. "Ich hoffe, dass ich so mehr Einfluss darauf habe, dass Entwicklungen aus der Forschung in die Software eingehen." Celonis sei eine sehr interessante Firma, "Deutschland kann stolz darauf sein", sagt van der Aalst, Deutschland und die Niederlande seien führend im Process-Mining.

Celonis gewinnt mit van der Aalst nicht nur den Doyen der Disziplin, es soll am Uni-Standort Aachen auch ein Celonis-Forschungszentrum eingerichtet werden - eine gute Maßnahme gegen den Mangel an Fachkräften in der Branche.

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