Europapolitik:Berlin reagiert auf Vorwürfe der EU

BVerfG-Urteil zu Anleihenkaufprogramm der EZB

"Ultra vires": Andreas Voßkuhle, damals Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sprach im Mai 2020 das EZB-Urteil.

(Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Die EU-Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet, weil ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Vorrang von EU-Recht in Frage stellt. Nun hat die Bundesregierung geantwortet.

Von Björn Finke, Brüssel

Es war ein großer Aufreger - und nun, gerade noch fristgerecht, reagiert die Bundesregierung. Anfang Juni leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, weil das Bundesverfassungsgericht nach Meinung Brüssels den Vorrang von EU-Recht in Frage gestellt hat. In dieser Woche und damit pünktlich zum Ende der zweimonatigen Frist hat die Bundesregierung eine Antwort an die Kommission geschickt, wie die Süddeutsche Zeitung aus informierten Kreisen erfuhr. Die EU-Behörde muss jetzt prüfen, ob der Brief ihre Bedenken ausräumt. Falls nicht, könnte die Kommission Deutschland in dem mehrstufigen Verfahren schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg verklagen.

Anlass des Vertragsverletzungsverfahrens ist ein Urteil vom Mai 2020. Darin warf das Bundesverfassungsgericht der EZB vor, die Notwendigkeit ihrer umstrittenen Anleihenkäufe nicht befriedigend zu begründen. Der Richterspruch ließ aber eine Hintertür offen: Die Käufe der Frankfurter Notenbank sind demnach in Ordnung, wenn sich Bundestag und -regierung mit der Sache befassen und zum Schluss kommen, dass die EZB sehr wohl die Verhältnismäßigkeit ausreichend prüfe. Genau das taten Regierung und Parlament im vorigen Sommer.

Die "Ultra-vires"-Einschätzung aus Karlsruhe ist für Brüssel ein "gefährlicher Präzedenzfall"

Dass die Kommission trotzdem ein Vertragsverletzungsverfahren startete, lag an etwas anderem: Der Europäische Gerichtshof hatte die Anleihenkäufe bereits zuvor gebilligt, doch das Bundesverfassungsgericht argumentierte, dass dieses Urteil "ultra vires" gewesen sei, also außerhalb der Kompetenz der Luxemburger Richter gelegen habe. Damit stellt Karlsruhe nach Ansicht der Kommission die Geltung von EU-Recht und Luxemburger Richtersprüchen in Deutschland in Frage - ein "gefährlicher Präzedenzfall", heißt es in der Brüsseler Behörde.

Die Kommission befürchtet, andere Regierungen und oberste Gerichte könnten das Urteil als Begründung nutzen, um selbst die Wirkung von EU-Recht und -Richtersprüchen anzuzweifeln. Tatsächlich monieren zum Beispiel Vertreter der polnischen Regierung und Justiz regelmäßig, dass Urteile des EuGH angeblich die polnische Verfassung brächen.

Immerhin scheint Warschau aber beim Streit um die Disziplinarkammer für Richter auf Entspannung zu setzen. Der EuGH urteilte Mitte Juli, dass die Kammer gegen EU-Recht verstoße, weil sie die Unabhängigkeit der Justiz gefährde. Stellt die Regierung den Missstand nicht bis 16. August ab, drohen Strafzahlungen. Nun wurde die Kammer teilweise von ihren Aufgaben entbunden: Die Präsidentin des Obersten Gerichts in Polen, Malgorzata Manowska, ordnete an, dass der Kammer keine neuen Disziplinarverfahren von Richtern oder Staatsanwälten übertragen werden, wie die staatliche polnische Nachrichtenagentur PAP am Freitag berichtete. Bereits eingereichte Anträge würden noch abgearbeitet. Die Suspendierung gelte bis zur Einführung neuer gesetzlicher Lösungen, die ein "wirksames Funktionieren des Haftungssystems für Richter" ermöglichten, hieß es - jedoch nicht länger als bis zum 15. November.

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