Süddeutsche Zeitung

Studie von Bundesfinanzministerium:"Kalte Progression gibt es in Deutschland derzeit nicht"

  • Das seit Jahren diskutierte Problem der kalten Progression existiert derzeit nicht. Das teilt das Finanzministerium mit.
  • Grund sind die geringe Inflationsrate und höhere steuerliche Grundfreibeträge.
  • Kalte Progression bedeutet, dass eine Lohnerhöhung durch die Kombination aus ansteigendem Steuertarif und Inflationsrate real zunichte gemacht wird.
  • Erst diese Woche hatte die CDU entschieden, noch in dieser Wahlperiode damit zu beginnen, die kalte Progression zu beseitigen.

Von Guido Bohsem und Claus Hulverscheidt, Berlin

Das heftig diskutierte Problem der sogenannten kalten Progression existiert derzeit gar nicht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des Bundesfinanzministeriums, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Demnach führt die Kombination aus geringer Inflation und Erhöhung des steuerlichen Grundfreibetrags Anfang 2014 dazu, "dass in diesem Jahr voraussichtlich keine kalte Progression entstehen wird". 2013 betrug die Belastung pro Person im Durchschnitt ganze 16 Euro.

Kalte Progression entsteht, wenn eine Lohnerhöhung durch die Kombination aus ansteigendem Steuertarif und Inflationsrate faktisch zunichtegemacht wird. Anders als oft behauptet, ist das Problem dabei nicht, dass mehr Lohn die Steuerlast nach oben treibt. Das ist im Gegenteil sogar gewollt, schließlich sollen ja besser Betuchte einen größeren Teil ihres Einkommens abgeben als Geringverdiener. Problematisch wird es erst, wenn gleichzeitig die Preise für Alltagsgüter anziehen. Dann nämlich steigt die Steuerlast, obwohl sich der Reallohn und damit die Kaufkraft des Bürgers gar nicht erhöht haben.

Das Thema dominiert seit Jahren die steuerpolitische Debatte in Deutschland. Diese Woche erst hatte der CDU-Parteitag gegen den anfänglichen Willen von Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) beantragt, noch in dieser Wahlperiode mit der Beseitigung der kalten Progression zu beginnen.

Faktor Existenzminimum

Doch offenbar gibt es gar nichts zu beseitigen, wie Schäubles "Erster Steuerprogressionsbericht" zeigt. Zwar erwarten seine Fachleute, dass die Bürger 2015 und 2016 mit 17 und 20 Euro (bei einem Prozent Inflation) beziehungsweise 73 und 78 Euro (bei zwei Prozent Inflation) belastet werden. Dieser Effekt wird jedoch durch eine andere Entwicklung überkompensiert, wie der neue Existenzminimumbericht der Bundesregierung zeigt. Er soll spätestens Anfang 2015 vom Kabinett beschlossen werden und liegt der SZ ebenfalls vor.

Demnach muss die Regierung den steuerlichen Grundfreibetrag von Alleinstehenden 2015 um 118 und 2016 um weitere 180 auf dann 8652 Euro anheben, um sicherzustellen, dass das Existenzminimum nicht besteuert wird. Damit verschwindet auch die errechnete kalte Progression. Prozentual gesehen noch größer ist der Korrekturbedarf beim Kinderfreibetrag. Er muss laut Bericht 2015 um 144 und 2016 um weitere 96 Euro auf 4608 Euro steigen. Rein rechnerisch ergibt sich daraus auch eine Kindergelderhöhung um etwa acht Euro.

Eigentlich hätte der Kinderfreibetrag bereits zu Beginn des laufenden Jahres angehoben werden müssen. Die Regierung hat die Erhöhung jedoch bisher verschleppt, was nun dazu führt, dass die Anhebung umso heftiger ausfallen muss und den Bundeshaushalt ausgerechnet 2015 belastet - in jenem Jahr, in dem Schäuble erstmals seit 1969 wieder ohne neue Schulden auskommen will. Die laut Existenzminimumbericht erforderlichen Anhebungen werden Bund, Länder und Gemeinden nach einer Faustformel im kommenden Jahr rund 1,8 Milliarden und 2016 etwa 1,6 Milliarden Euro kosten.

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Quelle:
SZ vom 12.12.2014 / gwb, hul
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