Buddhisten-Kloster in China:Ein Wirtschaftsimperium aus Ruinen

Das Kloster der Shaolin in China ist nicht nur eine Hochburg des Kung-Fu-Kampfsports, sondern auch eine des Kapitalismus - mitten in Maos Land.

Janis Vougioukas

Es ist später Vormittag und vor dem Verkaufsstand für Räucherstäbchen steht bereits eine Warteschlange. Langsam kommen auch die ersten Mittagsgäste ins vegetarische Klosterrestaurant - der Tag beginnt gut. Tausende Touristen haben sich seit den Morgenstunden am Haupteingang vorbeigedrängt und schieben sich nun in dichten Gruppen durch die Wandelgänge.

Shaolin, Getty

Die Mönche des Shaolin-Klosters, oft Kinder, treten mit ihren Kung-Fu-Darbietungen weltweit auf.

(Foto: Foto: Getty)

Dann steht plötzlich der Abt im Innenhof. Sofort wird es im gesamten Shaolin-Kloster still, zum ersten Mal an diesem Tag. Keiner der Urlauber hatte erwartet, den Abt persönlich zu sehen.

Niemand wagt es jetzt zu sprechen, nur das Piepen der Digitalkameras ist noch zu hören. Es ist eine sonderbare Aura, die den Mann umgibt und die sich sofort im ganzen Klosterhof ausbreitet, eine Mischung aus Respekt und Ehrfurcht. Manche, die zum ersten Mal hier sind, erstaunt das.

Der Abt trägt eine goldgelbe Kutte, die bis zum Boden reicht. Er geht schnell, doch seine Schritte sind kurz und die Füße bleiben dabei unter der Kutte versteckt. Es sieht aus, als schwebe er über den Boden, vorbei an den nahezu erstarrten Touristen.

Fast vergessen

Vor 1500 Jahren waren die ersten buddhistischen Mönche hierher gekommen und hatten am Fuß des Song-Berges in der zentralchinesischen Provinz Henan einen Tempel gebaut. Er wurde bald eine der wichtigsten religiösen Stätten des Landes.

Und doch war der Tempel nach den Wirren der Kulturrevolution unter Mao - in denen die Klosteranlagen in weiten Teilen zerstört und die Mönche vertrieben wurden - im Land fast völlig vergessen, als der junge Mönch Shi Yongxin 1999 im Alter von gerade einmal 34 Jahren die Führung übernahm. Mit ihm kam der Wandel. Shi machte das Kloster auf der ganzen Welt berühmt. Er baute aus den Ruinen ein Wirtschaftsimperium, das selbst in China einmalig ist. Wer das weiß, versteht auch den Respekt, der ihm heute entgegenströmt.

Wohl kein anderer Ort in China hat die Wandlung zum Kapitalismus so konsequent umgesetzt wie Shaolin. Mehr als vier Millionen Touristen kommen jedes Jahr hierher, das Kloster ist heute ein global agierender Unterhaltungskonzern mit weltweit registrierten Markenrechten, eigener Fernsehproduktionsfirma und E-Commerce-Plattform.

Der Abt - ein CEO

Vor einiger Zeit gab es auch Pläne, Shaolin an die Börse zu bringen. Im Zuge der Finanzkrise wurden sie erstmal auf Eis gelegt, manche sagen auch, dass es noch andere Gründe gab. Das Kloster selbst jedenfalls scheint von der Krise nicht betroffen, die Touristen strömen wie eh und je in die Anlage. Chinesische Zeitungen nennen Shi Yongxin inzwischen den "CEO-Abt". Und das ist durchaus als Kompliment gemeint.

Wie sich das Kung-Fu entwickelte

Der Audienzsaal ist ein abgedunkelter Raum in der Mitte des Klosterareals. An den Wänden stehen wuchtige Regale mit geschnitzten Ornamenten. Der Abt hat umständlich auf einem breiten Holzstuhl Platz genommen. Er hat die Beine im Schneidersitz gefaltet und die Arme in seinen breiten Ärmeln zusammengesteckt.

Mit seinem kahlen runden Kopf und dem starren Blick sieht er der Buddhastatue hinter ihm ziemlich ähnlich. Als er geboren wurde, 1965 in der kleinen Gemeinde Yingshang im Norden der Provinz Anhui, hieß er Liu Yingcheng. Seine Eltern waren arm, so wie damals fast alle Chinesen, doch unglücklich sollen sie nicht gewesen sein. Im Dorf arbeiteten alle zusammen unter der Anleitung des Produktionskollektivs.

Wenn die Ernte eingebracht werden musste, halfen die Kinder mit. Die Familie lebte in einem großen Haus mit sieben Zimmern. Die Wände waren aus dickem Lehm und das Dach aus Zweigen und Gras, und auch im Winter war es drinnen immer warm. Sein Vater arbeitete in einem Wasserkraftwerk viele hundert Kilometer entfernt. Er kam nur einmal im Jahr zum Frühlingsfest nach Hause. So musste sich die Mutter alleine um die fünf Kinder kümmern. Sie war es auch, die ihnen beibrachte, dass es noch einen größeren Kreislauf im Leben gab: den Buddhismus.

"Gut für das Leben"

Shi Yongxin ging 1981 ins Kloster. "Ich verstand früh, dass der Buddhismus gut für das Leben ist", sagt er heute. Shaolin war verfallen. Nur zwölf alte Mönche hatten die Wirren der Kulturrevolution überdauert. Viele der alten Gebäude waren zerstört worden. "Das Leben war damals nicht einfach", sagt der Abt. Es gab nicht einmal genug Zimmer für die Mönche. Ein Jahr musste er auf dem Steinboden schlafen, und doch habe er das Gefühl gehabt, im Kloster seine neue Heimat gefunden zu haben. Sie arbeiteten, sie beteten. Und sie übten gemeinsam das Kung-Fu.

Der Legende nach hat der indische Mönch Bodhidharma die Kampfkunst einst nach Shaolin gebracht. Es gibt heute verschiedene Theorien über die Entstehung von Kung-Fu. Wahrscheinlich begann der Kampfsport als eine Form der Meditation.

Die Mönche trainierten ihren Atem und ahmten die Bewegungen der Tiere nach, um ihren Körper zu stählen. Vielleicht taten sie das, um länger meditieren zu können. Doch das Kung-Fu entwickelte sich schnell zu einem Kampfsport. Als 13 Mönche aus Shaolin während der Tang-Dynastie im Jahr 728 n. Chr. dem Kaiser Li Shimin zur Hilfe eilten, um einen Aufstand niederzuschlagen, wurde Kung-Fu im ganzen Land berühmt.

Weit hinten im Tempel steht die Gebetshalle für die Göttin Guanyin. Die Farbe blättert von den Wänden, mittendrin hängt ein blasses Gemälde. Hier kann man sehen, wie es im Kloster einmal gewesen sein muss: Bunt gekleidete Mönche kämpfen, ringen und springen durch den Klostergarten. In der Mitte stehen der Abt und ein Regierungsbeamter in einer Pagode und beobachten das Treiben. Heute trainieren die jungen Mönche in einem Seitenflügel, einer Halle aus grauen Stahlplatten.

Show für die ganze Welt

Einige sind noch Kinder, sie tragen schwarze Turnschuhe zu ihren hellblauen Kutten. Ein Trainer und eine Choreografin brüllen Kommandos in den Raum. Dann werfen die Mönche ihre Körper durch die Luft und brüllen bedrohlich . Hinten an der Wand hängen Plakate von Auftritten aus dem Ausland. Die Shaolin-Mönche sind mit ihrer Kung-Fu-Bühnenshow inzwischen auf der ganzen Welt aufgetreten.

Abt Shi Yongxin lebte ein Jahr im Tempel, als der Actionfilm "Shaolin Temple" (in Deutschland: Shaolin - Kloster der Rächer) in die Kinos kam, die Hauptrolle spielte Jet Li. Es folgten andere Filme mit Jackie Chan und Bruce Lee. Und plötzlich kannte die ganze Welt Shaolin. "Wir haben die Geschichte des Klosters selber erst aus dem Film erfahren", sagt Qian Guiling, die Leiterin der Touristikbehörde in der Kreisstadt Dengfeng. Damals gab es in der Gegend keine richtigen Straßen, keine Ampeln, die Bauern hatten nicht einmal Fahrräder. Doch vier Jahre später kamen bereits 2,7 Millionen Touristen und das Dorf erlebte einen Boom, der in der Geschichte des weltweiten Massentourismus nicht viele Beispiele kennt. Das war der Anfang.

Rund 70 Kung-Fu-Schulen gibt es inzwischen in Dengfeng. 50 000 Schüler lernen hier den Kampfsport und träumen von einer Karriere als Filmstar oder Leibwächter. Der Andrang ist so groß, dass inzwischen sogar mehrere Franchise-Klöster eröffnet wurden. Neue Niederlassungen in Hongkong, Australien und Kanada sind geplant.

Shi Yongxin hat in den vergangenen zwanzig Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, um den Medienruhm in Geld zu verwandeln. Er gründete die Shaolin Temple Industrial Development Ltd., er vermietete das Kloster an die Fernsehshow "China sucht den Kung-Fu-Star"; bald soll ein Shaolin-Krankenhaus die "geheimen Rezepte der Mönche" verkaufen. Hunderte Firmen haben sich die Werberechte für den Namen Shaolin gesichert, darunter ein Online-Casino aus Taiwan, ein Möbelhersteller und ein Dosenfleisch-Produzent. Vielleicht ist Shaolin inzwischen der erfolgreichste chinesische Markenname weltweit.

Der Abt fährt heute mit einem Volkswagen Tuareg mit getönten Scheiben durch die Gegend. Vor drei Jahren schenkte ihm die Regierung den Wagen für seine Verdienste um die lokale Tourismusindustrie. Bei der Übergabe sagte er: "Ich werde mein Bestes versuchen, um die Kampfkunst auf der ganzen Welt noch bekannter zu machen und so den Tourismus zu entwickeln. Ich träume davon, nächstes Jahr einen noch größeren Preis zu bekommen." Darüber waren selbst die Chinesen überrascht.

Kommerz oder Buddhismus?

Es ist unmöglich geworden, in Shaolin zwischen Tradition und Show zu unterscheiden. Das wissen sie auch im Kloster. Über den Börsengang spricht der Abt selbst inzwischen nicht mehr. Vielleicht wegen der globalen Finanzkrise. Oder weil das Kloster gerne Weltkulturerbe werden will, und beides lässt sich nur schlecht vereinen. "Die genauen Pläne sollen erst in den kommenden Monaten bekannt gegeben werden", sagt ein Manager der eigens gegründeten Holdinggesellschaft. Es heißt, dass die Einnahmen aus dem Aktienverkauf für die weitere Expansion genutzt werden sollen. Im Gespräch sind eine vegetarische Restaurantkette und Yogaschulen. Ist das nur noch Kommerz oder dient es der Verbreitung des Buddhismus?

Shi Dechao will über den wahren Kung-Fu reden. "Besucht mich zu Hause", hatte er gesagt. "Geht aus dem Haupteingang des Klosters, dann rechts die Straße runter, ich wohne in dem kleinen Dorf hinter der Tankstelle." Er steht in der Tür eines ärmlichen Hauses mit Wänden aus nacktem Beton. Shi Dechao ist einer der bekanntesten Kung-Fu-Kämpfer des Landes, auch weil er einen langen Rauschebart trägt, den die Fotografen so mögen und der gut zu seiner orangefarbenen Mönchskutte passt. Shi lebt zurückgezogen, als wolle er dem Rummel rund um das Kloster aus dem Weg gehen. Stören ihn die Touristengruppen und der Kommerz? Shi überlegt lange. Schließlich sagt er sehr langsam: "Der Lotus wächst mit seinen Blüten aus dem Schlamm. Und je mehr Schlamm es gibt, desto größer und schöner wird der Lotus."

Später holt er zwei Fotoalben hervor. Vor ein paar Monaten war er in Amerika. Auf einem Bild steht er vor den Wolkenkratzern von Manhattan. Auf einem anderen sitzt er mit amerikanischen Freunden in einem Restaurant. Shi wirkt glücklich, wie ein Mann eben, der im Leben alles erreicht hat, was er erreichen wollte.

Der Kontrast zu dem Rummel im Kloster könnte größer nicht sein. Doch ein wenig spiegelt die Entwicklung des Shaolin-Klosters auch das wider, was im ganzen Land in den vergangenen Jahren passiert ist. Erst verkündete Mao die kommunistische Revolution. Dann entfesselte Deng die kapitalistische Gegenrevolution. Die ständigen ideologischen Wechselbäder haben den Menschen den Glauben genommen. Für die meisten Chinesen ist wirtschaftlicher Erfolg heute der einzige Lebenssinn. Vielleicht ist das der Grund, warum heute so viele nach Shaolin kommen. Sie wollen gar nicht die alten Buddha-Statuen sehen. Sie kommen, weil der Tempel reich und erfolgreich ist - ein Wallfahrtsort für den chinesischen Kapitalismus.

Der Abt sagt, dass der Buddhismus in Gefahr ist. "Wir leben in Friedenszeiten. Viele Menschen sehen heute keinen Grund mehr, einen Kampfsport zu lernen. Kriege werden heute mit Computern geführt. Wir tun das alles, um die Idee des Buddhismus in der Welt bekannt zu machen." Sein Gesicht bleibt starr. Offenbar meint er das ernst.

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