Brexit:"Projekt Angstmache auf Steroiden"

Brexit: Brexit-Gegner demonstrieren in London. Sie weisen darauf hin, dass die Regierung der EU bei einem Austritt noch immer 50 Milliarden Pfund überweisen muss.

Brexit-Gegner demonstrieren in London. Sie weisen darauf hin, dass die Regierung der EU bei einem Austritt noch immer 50 Milliarden Pfund überweisen muss.

(Foto: Niklas Halle'n/AFP)
  • Vor der Abstimmung über das Brexit-Abkommen werden in Großbritannien weiterhin düstere Szenarien für den Fall eines ungeregelten Ausstiegs aus der EU verbreitet.
  • Bei den Parlamentariern verfangen diese bislang aber kaum. Das hängt auch damit zusammen, dass die Warnungen, die es vor dem Referendum gab, im Nachhinein unbegründet erscheinen.

Von Björn Finke, London

Der britische Schatzkanzler zeichnete ein düsteres Szenario. Würde die Brexit-Kampagne das EU-Referendum gewinnen, leide die Wirtschaft, und die Steuereinnahmen sänken. Er müsse dann leider die Steuern erhöhen und Ausgaben für Gesundheit und Schulen kappen, sagte George Osborne im Juni 2016. Das war eine Woche vor der Volksabstimmung. "Wir sollten das nicht riskieren", warnte der Politiker, der wie die Mehrheit der Minister und Parlamentarier für den Verbleib in der EU warb. Kurz zuvor hatte bereits Notenbankchef Mark Carney gemahnt, ein Sieg der Austrittsbefürworter könnte zu einer Rezession und mehr Arbeitslosigkeit führen.

Bekanntlich entschieden sich 52 Prozent der Briten trotzdem für den Brexit. Das Pfund verlor daraufhin deutlich an Wert, weil Investoren langfristigen Schaden für die britische Wirtschaft erwarten. Und Osborne verlor seinen Job, genau wie sein Freund David Cameron, der Premier. Doch zu einer Rezession, einem harten Abschwung, kam es nicht. Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote sank auf gut vier Prozent, den niedrigsten Wert seit den Siebzigerjahren. Die Zahl der Beschäftigten ist höher denn je, und die Löhne, die lange kaum gestiegen sind, legten zuletzt wieder so schnell zu wie vor der Finanzkrise. Die Wirtschaft wuchs 2018 wohl um 1,3 Prozent, was für britische Verhältnisse langsam, aber auch nicht desaströs ist. Keine Spur also von Brexit-Blues, auf den ersten Blick zumindest.

Die Warnungen, die Regierung, Währungshüter und Verbände vor dem Referendum verbreiteten, tauften Brexit-Befürworter damals "Project Fear", Projekt Angstmache. Nun warnen Minister und Unternehmen wieder: vor den Folgen eines Austritts ohne Vertrag. Brexit-Fans nennen diese Bemühungen "Project Fear 2" oder - sehr hübsch: - "Projekt Angstmache auf Steroiden". Damit wollen die Austritts-Enthusiasten die Glaubwürdigkeit der Mahner erschüttern.

Keine Spur vom Brexit-Blues, zumindest auf den ersten Blick

Tatsächlich haben es Wochen voller düsterer Prognosen nicht geschafft, die Stimmung im Parlament zu drehen. Es gilt weiterhin als sehr unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit der Abgeordneten am Dienstagabend für den Brexit-Vertrag votiert, den London und Brüssel ausgehandelt haben. Damit steigt das Risiko, dass die Briten am 29. März die EU ohne Abkommen verlassen. Die vereinbarte Übergangsphase, in der sich bis mindestens Ende 2020 nicht viel ändern soll für Bürger und Firmen, fiele dann weg. Stattdessen würden Geschäfte über den Ärmelkanal den Regeln der Welthandelsorganisation WTO unterliegen. Das bedeutet Zölle - von zehn Prozent auf Autos oder 35 Prozent auf Milchprodukte - und Zollkontrollen an den Häfen.

Die Häfen am Festland und im Königreich sind jedoch nicht darauf vorbereitet, in gut zehn Wochen als Zollgrenze zwischen der EU und der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt zu dienen. Chaos und Staus wären kaum zu vermeiden; der stete Nachschub für Supermärkte und Fabriken wäre bedroht. Dabei bezieht das Königreich fast ein Drittel seiner Nahrungsmittel vom Festland, und Fabriken halten oft nur Teile für wenige Produktionsstunden vorrätig.

Britische Regierung, Notenbank und Unternehmerlobbys warnen daher ausdauernd vor dem massiven Schaden, den so ein ungeregelter Brexit der Wirtschaft im Königreich zufügen würde - und der in vielen anderen EU-Staaten, etwa in Deutschland. Brexit-trunkene Rebellen in Mays konservativer Fraktion schreckt das aber nicht. Diese Vertragsgegner argumentieren, dass es nicht so schlimm kommen werde, allein schon, weil die EU kein Interesse an wirtschaftlichen Turbulenzen habe. Und vielleicht, so kalkulieren sie, werde die Angst Brüssels vor einem Chaosaustritt doch noch Nachverhandlungen ermöglichen. Diese lehnt die Europäische Union allerdings zumindest derzeit strikt ab.

Manche Vertragsbefürworter hoffen im Stillen, dass eine Niederlage Mays am Dienstag die Finanzmärkte erschüttern könnte. Das Pfund würde wieder deutlich an Wert verlieren, Aktienkurse würden fallen. Dies könnte genügend widerspenstige Abgeordnete überzeugen, in einem zweiten Anlauf das Abkommen doch noch zu unterstützen, heißt es. Analysten halten aber eine starke Reaktion der Märkte für unwahrscheinlich. Schließlich erhöht eine Niederlage nicht nur die Chance eines Brexit ohne Vertrag, sondern auch die, dass der Austritt verschoben oder gar am Ende abgesagt wird.

Die Investitionen sinken: Manager warten ab, bis Klarheit herrscht

Dass sich die düsteren Prognosen, die vor dem Referendum abgegeben wurden, nicht bewahrheitet haben, ist vor allem der Konsumfreude der Briten zu verdanken. Die Untertanen Ihrer Majestät haben sich von der Brexit-Unsicherheit lange nicht die Lust am Shoppen nehmen lassen - gerne auch auf Pump - und so die Konjunktur gestützt. Und das, obwohl die Abwertung des Pfunds nach der Volksabstimmung die Inflation hochgetrieben hat: Das billigere Pfund macht Importe teurer, etwa von französischem Rotwein oder deutschen Autos.

Eine weitere Erklärung für die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt ist, dass dieser verzögert auf Entwicklungen reagiert. Jobs, die heute geschaffen werden, sind Ergebnis von Investitionen, die Chefs vor vielen Monaten bewilligt haben. Doch jetzt, da der Austrittstermin näher rückt, werden die Manager vorsichtig. In einer Umfrage des größten Wirtschaftsverbands CBI gaben vier von fünf Firmen an, dass der anstehende Brexit ihre Investitionspläne belaste. In der exportabhängigen britischen Autoindustrie investierten Konzerne im ersten Halbjahr 2018 nur halb so viel wie im Vorjahreszeitraum. Die Unternehmen warten ab, bis Klarheit herrscht.

Auch die wichtige Finanzbranche ist betroffen. In den Monaten Oktober bis Dezember sanken dort die Umsätze - das erste Minus in einem Quartal seit fünf Jahren, wie der CBI am Montag berichtete. Für das laufende Jahresviertel gehen die Herren und Damen des Geldes von einem weiteren Rückgang aus.

Weniger Geschäft und geringere Investitionen werden früher oder später unerfreuliche Folgen für Jobs und Gehälter im Königreich haben. Die Frage ist nicht, ob, sondern nur, wann.

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