Süddeutsche Zeitung

Brexit:Wenn 7000 Lkw Schlange stehen

Warum die britische Regierung jetzt vor einem Chaos an der Grenze warnt.

Von Alexander Mühlauer, London

Nicht jeder trägt einen so ehrwürdigen Titel wie Michael Gove. Er ist Chancellor of the Duchy of Lancaster und als solcher für die Verwaltung des Herzogtums zuständig. Weil ihn das aber offenbar nicht auslastet, hat ihm Premierminister Boris Johnson den Auftrag erteilt, die britische Wirtschaft auf die Folgen des Brexit vorzubereiten. In seiner Funktion als Kabinettsminister spricht Gove schon seit einiger Zeit mit Unternehmern und erklärt ihnen, sich gefälligst darauf einzustellen, dass der Handel mit der EU vom 1. Januar an nicht mehr so reibungslos laufen werde wie jetzt. Um die Wirtschaft wachzurütteln, hat Gove nun einen Brief an die großen Handelsverbände geschrieben, in dem er ein "angemessenes Worst-Case-Szenario" entwirft. Diese Formulierung ist nichts anderes als eine elegante Umschreibung für das, was zum Jahreswechsel an der britischen Grenze droht: Chaos. Und zwar egal, ob es einen Handelsvertrag mit der EU gibt, oder nicht.

Gove warnt vor langen Lkw-Schlangen: Bis zu 7000 Lastwagen könnten in der Grafschaft Kent im Stau stehen, um auf die nötigen Kontrollen am Hafen in Dover oder am Channel Tunnel zu warten. Die Unternehmen müssten sich auf eine Verzögerung von zwei Tagen einstellen, um Waren von Großbritannien in die Europäische Union auszuführen. "Es ist es ist wichtig, dass die Unternehmen jetzt handeln und sich auf neue Formalitäten vorbereiten", schrieb Gove. Und fügte sogleich hinzu, dass er damit rechne, dass bis zu 50 Prozent der Lastwagen, die am Ärmelkanal ankommen, keine korrekt ausgefüllten Papiere dabei hätten. Das würde wiederum die Wartezeit an der Grenze deutlich verlängern.

Bislang passieren täglich bis zu 10 000 Trucks die Route von Dover nach Calais in Frankreich. Doch wenn Großbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion zum Jahreswechsel verlässt, könnte der Frachtverkehr von Januar bis Ende März um bis zu 80 Prozent einbrechen, warnte Gove. Sein Brief und sein Auftritt im britischen Unterhaus am Mittwoch, bei dem er das Szenario öffentlich vorstellte, wurden von der Wirtschaft mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einerseits sind sich vor allem die Logistikunternehmen bewusst, dass es zu massiven Verzögerungen im Lieferverkehr kommen dürfte. Andererseits fühlen sich viele Unternehmen von der Regierung allein gelassen, weil gut 100 Tage vor dem Jahreswechsel noch immer völlig offen ist, ob es einen Handelsvertrag mit der EU geben wird.

Gibt es zwischen London und Brüssel keine Einigung, gelten die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO). Es würde also Zölle und Zollkontrollen geben. Doch selbst im Fall eines Deals müssen sich die Unternehmen auf mehr Papierkram einstellen. Zu diesem Zweck ist die britische Regierung dabei, ein neues Portal im Internet aufzubauen, das den Lkw-Fahrern dabei helfen soll, die Formulare vor ihrer Ankunft in Kent auszufüllen. Wer das nicht ordnungsgemäß tut, riskiert eine Strafe von 300 Pfund (umgerechnet etwa 330 Euro). Das Problem ist nur: Das Netzportal wird wohl erst im November fertig.

Fest steht, dass die Kosten für Unternehmen deutlich steigen werden. Auch die Regierung muss viel Geld ausgeben, um die Kontrollen gewährleisten zu können: Dem Vernehmen nach braucht es 50 000 neue Mitarbeiter an der Grenze. Für die Regierung ist das eine schlichtweg notwendige Investition, schließlich ist Großbritannien vom 1. Januar an nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion. Gove wiederum kann man unterstellen, dass er seinen Weckruf nicht ganz ohne Hintergedanken losgeworden ist. Der Minister ist nämlich einer, der für einen Handelsvertrag mit der EU plädiert. Und wer weiß, vielleicht wachen jetzt einige am Kabinettstisch auf, die einen No-Deal-Brexit bislang für absolut unproblematisch hielten. Das wäre ganz in Goves Sinne.

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