Süddeutsche Zeitung

Brexit:Großbritanniens Lebensader

Ohne Brexit-Deal müssten Laster an der Grenze wieder kontrolliert werden. Der wichtigste britische Fährhafen in Dover würde kollabieren. Nirgends zeigt sich deutlicher, was beim EU-Ausstieg auf dem Spiel steht.

Reportage von Björn Finke, Dover

Schaumkronen tanzen im Ärmelkanal auf den Wellen. Am Horizont trennt eine dunkle Linie den grauen Himmel vom grün-grauen Wasser. Diese Linie ist die französische Küste, gut 30 Kilometer entfernt von diesem Aussichtspunkt auf den Kreidefelsen von Dover. Direkt am Fuß der weißen Klippen befindet sich der Hafen: Drei mächtige Fähren haben angelegt. Der Wind trägt unverständliche Lautsprecherdurchsagen herbei. Von einem Schiff fahren Lastwagen herunter und auf eine Hochstraße, die in einem großen Bogen raus aus dem Gelände führt. Andere Straßen führen rein in den Hafen, zu Parkplätzen vor den Kais. Von hier oben wirkt Europas belebtester Fährhafen wie eine Miniatureisenbahn, nur dass statt Zügen Laster auf vorgegebenen Bahnen herumzuckeln. Autos sind kaum zu sehen.

Bis zu sechzigmal am Tag kommt eine Fähre aus dem französischen Calais oder Dünkirchen an, bis zu sechzigmal legt eine ab. Neben Autos transportieren die Schiffe der Reedereien P&O Ferries und DFDS Seaways an Spitzentagen 10 000 Lastwagen. Das sind mehr Laster, als alle anderen britischen Häfen - und der Betreiber der Züge durch den Ärmelkanal-Tunnel - zusammen abfertigen.

Die Lastwagen bringen Zulieferteile in Fabriken, die oft bloß Vorräte für wenige Produktionsstunden lagern. Just-in-time-Fertigung heißt dieses Prinzip. Oder sie bringen Obst und Gemüse, Bier und Wein für die Supermärkte. Wie eng die Wirtschaft des Königreichs mit der im Rest Europas verflochten ist, zeigt sich nirgendwo besser als im Port of Dover. Der Hafen ist die Lebensader, die Großbritannien mit dem Festland verbindet.

Doch der Brexit könnte diese Lebensader verstopfen. Es ist ungewiss, ob das britische Parlament in anderthalb Wochen für den Austrittsvertrag stimmt, auf den sich London und Brüssel nach quälend langen Verhandlungen geeinigt haben. Zahlreiche Brexit-Enthusiasten bei den regierenden Konservativen finden, dass Premierministerin Theresa May der EU viel zu sehr entgegengekommen sei. Bei einer Ablehnung besteht die Gefahr, dass Großbritannien die Union am 29. März 2019 ohne Scheidungsvertrag verlässt. Dann würde die vereinbarte Übergangsphase wegfallen, in der sich für Firmen und Bürger fast nichts ändern soll. Stattdessen würden Zölle eingeführt, Grenzbeamte müssten Laster überprüfen. An den Häfen drohten Chaos und Staus. Fabriken würden die Zulieferteile ausgehen, Supermärkte könnten Regale nicht wieder auffüllen.

Und selbst wenn das Parlament den Vertrag absegnet, müssen Spediteure und Hafenbetreiber, die Manager in Supermärkten und Fabriken weiter bangen. Dank der Übergangsphase bliebe zwar bis Ende 2020 oder vielleicht sogar bis 2022 alles wie gehabt. Aber ob danach Kontrollen vermieden werden können, hängt vom Handelsvertrag ab, den Brüssel und London während dieser Zeit abschließen wollen.

Tim Reardon wird die Arbeit daher nicht so schnell ausgehen. Der 47-Jährige ist "Head of EU Exit" beim Hafenbetreiber in Dover, also der Brexit-Beauftragte. Sein Schreibtisch steht im fünften Stock eines Bürogebäudes auf dem Hafengelände. Er schreitet ans Fenster und zeigt auf eine Fähre. "Sehen Sie den Lastwagen mit dem weißen Auflieger, der gerade herunterfährt?", fragt er und blickt auf seine Armbanduhr. "Lassen Sie uns schauen, wie lange er bis zum Ausgang braucht." Der Laster, der dem Logo auf dem Anhänger zufolge der lettischen Spedition Kreiss gehört, fährt auf die Hochstraße im Hafen, vor ihm und hinter ihm andere Lastwagen.

Eines der Gespanne hat den Namen einer ungarischen Spedition auf die Seite gedruckt, dann kommen Laster aus Litauen und den Niederlanden - eine Parade der europäischen Logistikbranche. "Hier, der Lastwagen hat ein Fahrgeschäft für einen Jahrmarkt geladen", sagt Reardon. Schließlich fährt das Kreiss-Gespann vorbei. Als es aus dem Sichtfeld verschwindet, kurz vor dem Ausgang des Hafens, schaut der Manager wieder auf seine Uhr. "Dreieinhalb Minuten von der Fähre", sagt er zufrieden. Reardon weist gen Meer: "Und da ist bereits das nächste Schiff." Alles geht so schnell, weil die Laster nach dem Anlegen einfach wegfahren können. Die Pässe werden immer schon am Abfahrtshafen geprüft. Das ist nötig, weil Großbritannien nicht Mitglied des Schengen-Raums ist.

Müssten Fahrer jedoch demnächst im Hafen anhalten, um Zollpapiere abzugeben oder um Grenzbeamten ihre Ladung zu zeigen, würde der stete Fluss empfindlich gestört; die ewige Lkw-Kolonne geriete ins Stocken. Wenn solche Kontrollen die Abfertigung jedes Lastwagens in Richtung Frankreich nur um zwei Minuten verzögern, wären 27 Kilometer Dauerstau auf den Straßen vor dem Port of Dover die Folge, rechnet das Hafenmanagement vor. "Das ist eine sehr simple Kalkulation", sagt Reardon. "Wir wissen, wie schnell es bisher funktioniert, und wir kennen die Zahl der Laster und der Parkplätze." Auf französischer Seite, in Calais und Dünkirchen, droht ähnliches Chaos.

Dummerweise kann der Port of Dover keine gigantischen neuen Parkplätze bauen, wo Lastwagen warten könnten, bis die Zollformalitäten erledigt sind. Auf der einen Seite ragen die Kreidefelsen hoch, auf der anderen grenzt der Hafen direkt an die Stadt. Ins Meer hineinzubauen, geht ebenfalls nicht: "Das haben wir schon so weit wie möglich gemacht. Noch mehr, und die Fähren könnten nicht mehr richtig manövrieren", sagt der Brexit-Beauftragte. "Deshalb müssen wir den Verkehr unbedingt am Laufen halten, ohne Zollkontrollen. Ich bin zuversichtlich, dass die Regierung das auch verstanden hat", sagt er.

Davon konnte der Hafen nicht immer ausgehen. Der frühere Brexit-Minister Dominic Raab, der vor zwei Wochen aus Protest gegen das umstrittene Austrittsabkommen hinschmiss, hatte kurz vor dem Abdanken ungläubiges Entsetzen ausgelöst: Der Brexit-Fan hatte auf einer Tagung gesagt, ihm sei gar nicht klar gewesen, wie sehr das Königreich auf reibungslose Im- und Exporte in Dover angewiesen ist. Schön, dass der zuständige Minister dazu- gelernt hat. Und das, obwohl er Dover während seiner Amtszeit nie besucht hat.

Viele Unternehmen bereiten sich notdürftig auf das schlimmste Szenario vor: auf Stillstand in den Häfen und verzögerte Lieferungen, sollte das Königreich die EU ohne Scheidungsvertrag verlassen. Die Firmen mieten zusätzliche Lager an und horten Vorräte. Der Chef des Verbands der britischen Lebensmittelindustrie FDF warnte in dieser Woche bei einer Parlamentsanhörung, Platz in Kühlhäusern sei inzwischen komplett ausgebucht.

Der Autokonzern BMW wiederum zieht im Oxforder Werk seiner Tochtermarke Mini die Sommerpause auf Ende März vor, den Brexit-Termin. Verstopfte Häfen würden die Autobranche besonders heftig treffen. Jeden Tag bringen mehr als 1100 Lastwagen Zulieferteile vom europäischen Festland in die britischen Fabriken. Deren kostengünstiges Just-in-time-Produktionsmodell funktioniert nicht mehr, wenn wegen Zollkontrollen Staus und Verspätungen drohen.

Die Regierung befürchtet, dass Nahrungsmittel und Medikamente knapp werden

Einen Vorgeschmack gab es im Sommer 2015, als streikende Arbeiter den Hafen von Calais lahmlegten. Weil sich die Laster in Dover zurückstauten, verwandelte die Polizei die Autobahn M20, die von London zu dem Hafen führt, in einen Lkw-Parkplatz. Gut 4600 Laster warteten dort zwischenzeitlich. Sollte nach einem ungeregelten Brexit Chaos herrschen, will die Regierung wieder Lastwagen auf Autobahnen stehen lassen. Der Plan trägt den schönen Namen "Operation Brock"; Bauarbeiter begannen bereits damit, die M20 und die benachbarte M26 für diese schnöde Zweckentfremdung zu präparieren.

London erwägt zudem, Frachtschiffe zu chartern, damit Nahrungs- und Arzneimittel nicht knapp werden. Die Schiffe sollen mit ihrer wertvollen Ladung andere britische Häfen ansteuern. Das Verkehrsministerium will Millionen in den Ausbau solcher Häfen investieren.

Diese Bemühungen wirken allerdings eher hilflos bis verzweifelt: Die schwimmende Autobahn zwischen Calais und Dover ist unersetzlich. "Die anderen Häfen haben ja bei Zollkontrollen ähnliche Probleme wie wir", sagt Brexit-Beauftragter Reardon. Schiffe umzuleiten würde außerdem die Reisezeit deutlich erhöhen. Von Calais nach Dover braucht eine Fähre nur 90 Minuten. Sie kann an einem Tag viermal hin- und zurückfahren, also achtmal Lastwagen transportieren. Zu anderen britischen Häfen wären die Schiffe viel länger unterwegs - und damit weniger häufig.

Die Regierung verspricht deswegen, in Dover keine Zollkontrollen für Laster aus der EU einzuführen, selbst wenn sie das nach einem Austritt ohne Vertrag eigentlich müsste. Die Gefahr von Chaos bannt das aber nicht, denn Paris will Gleiches für britische Lastwagen bisher nicht garantieren. Verlassen die Briten die EU ohne Abkommen, gelten für Ein- und Ausfuhren die Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Die sehen etwa Zölle von zehn Prozent auf Autos und 35 Prozent auf Milchprodukte vor. Frankreich müsste im Namen der EU sicherstellen, dass die Abgaben tatsächlich gezahlt werden. Ähnliches käme auf Irland zu, an der Landgrenze mit dem britischen Nordirland.

Die Zollformalitäten, die dann in Dover Tausenden Lkw-Fahrern drohen könnten, sind jetzt schon Alltag für wenige Hundert pro Tag. Die allermeisten Laster, die den Hafen nutzen, kommen aus EU-Staaten und fahren in EU-Staaten, Zollkontrollen sind daher nicht nötig. Doch einige Gespanne bringen Fracht aus anderen Ländern ins Königreich oder wollen britische Waren in diese Staaten exportieren. Bevor jene Lastwagen in den Fährhafen fahren - oder nachdem sie ihn verlassen haben -, müssen sie einen anderen Bereich des Port of Dover ansteuern, einen Parkplatz, der eingeklemmt zwischen Yachthafen, Kreuzfahrt-Terminal und Bahngleisen liegt.

In der Mitte dieses Parkplatzes befindet sich ein langes Gebäude. Im Erdgeschoss reichen Fahrer an einem Schalter ihre Zollpapiere ein. Die Wartezeit können die Trucker in der Etage darüber totschlagen, in der Kantine mit ihrem fettigen Essen, den Spielautomaten und Fernsehern. Auch Duschen gibt es. Will der britische Zoll Lastwagen inspizieren, wird die Fracht auf eine von drei überdachten Rampen ausgeladen. Auf einer Rampe stehen Paletten mit Bündeln von Wollsocken, aber Grenzbeamte und Laster sind keine mehr zu sehen. "Heute Morgen hat der Zoll sechs Ladungen geprüft", sagt Tim Dixon. Der 52-Jährige leitet diese Mischung aus Zollabfertigung und Raststätte. "Wir wissen nie, wie viele Kontrollen es geben wird und wann."

Dixon ist Manager des Dienstleistungsunternehmens Motis. Die Firma betreibt die Anlage; die Mitarbeiter nehmen im Auftrag der Zollbehörde Papiere entgegen und geben die Daten in Computer ein. Ob alles in Ordnung ist oder ob Kontrollen notwendig sind, entscheidet dann der Zoll. Die Beamten sitzen in einem Büro neben dem Schalterbereich. "In 96 Prozent der Fälle erfolgt die Freigabe ganz schnell", sagt Dixon. Muss die Ladung dagegen geprüft werden, bedeute das für den Fahrer "zwei bis zehn Stunden" Verspätung. Den Grenzbeamten geht es nicht nur um unverzollte Ware. Manchmal kontrollieren sie auch, ob die Güter, etwa Lebensmittel, Standards entsprechen und keine Gefahr für Verbraucher darstellen.

Die Motis-Anlage ist rund um die Uhr geöffnet und hat gut 300 Parkplätze. "Wir fertigen 550 bis 600 Laster pro Tag ab", sagt Dixon. Wenn nach einem Brexit ohne Vertrag alle Fahrer anhalten und Zollpapiere abgeben müssen, würde die Zahl theoretisch auf bis zu 10 000 täglich steigen. "Das ist unmöglich, wir haben nicht den Platz und die Mitarbeiter", sagt er. "Das ganze Land wird zum Stillstand kommen, Großbritannien ist auf Dover angewiesen."

Dixon führt auf den Parkplatz. Viele Lastwagen dort stammen aus der Türkei. "Die Türkei, die Schweiz, Russland, die Ukraine: Da sind die meisten her", sagt er. Diese Länder gehören nicht zur EU. Die Türkei ist der EU aber in einer Zollunion für Industriegüter verbunden. Die Schweiz hat Verträge mit Brüssel abgeschlossen, die dem Land die Vorteile einer Binnenmarkt-Mitgliedschaft bieten. Und die Ukraine hat ein ehrgeiziges Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieben. Trotzdem müssen Trucker aus diesen Ländern stoppen und Formulare einreichen. Grenzbeamte kontrollieren die Fuhren stichprobenartig. Einfach losfahren nach Anlegen der Fähre können lediglich die Laster aus EU-Staaten.

Reibungslosen Handel gewährt die EU keinem einzigen Nicht-Mitglied

Das sind beunruhigende Aussichten für Premierministerin May. Sie möchte mit Brüssel während der Übergangsphase einen Handelsvertrag abschließen, der reibungslose Im- und Exporte ermöglicht und Zollkontrollen überflüssig macht. Damit will sie nicht nur die Just-in-time-Produktion in britischen Fabriken retten und den Port of Dover vor dem Kollaps bewahren. Sie will zugleich verhindern, dass es in Zukunft eine sichtbare Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt. Doch ein Spaziergang über den Parkplatz von Dixons Anlage zeigt sehr deutlich, dass die EU wirklich reibungslosen Handel bisher keinem einzigen Nicht-Mitglied gewährt.

Londons Freiheitsdrang wird die Gespräche zusätzlich belasten: Nach Mays Willen soll das Königreich eigene Handelsverträge abschließen, eigene Standards setzen und Einwanderung aus der EU kontrollieren können. Diese Ansprüche machen eine enge Anbindung schwierig.

Die Regierung hofft, dass technische Lösungen helfen werden, Verzögerungen an der Grenze zu vermeiden. Zollformulare sollen elektronisch verschickt werden, Kameras sollen Nummernschilder von Lastern erfassen und mit einer Datenbank abgleichen. Aber es würde Jahre dauern, diese Systeme flächendeckend zu installieren und die Spediteure darauf vorzubereiten. Und auch in der schönen neuen Technikwelt wären weiter Zöllner nötig, die stichprobenartig Laster anhalten und prüfen, ob die Fracht mit den Angaben in den elektronischen Dokumenten übereinstimmt.

In Dixons Zollbüro hängt ein weißes DIN-A4-Blatt über dem Schalter, an dem seine Angestellten Formulare entgegennehmen. Auf das Papier ist schlicht "Brexit - Friday, 29th March 2019" gedruckt: eine Erinnerung daran, wann dieser historische Einschnitt ansteht. Ein Einschnitt, unter dem kein anderer Ort im Königreich mehr leiden könnte als der Port of Dover.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2018/vwu
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