Süddeutsche Zeitung

Handelsabkommen:Wer hat Angst vor Chlorhühnchen?

  • Nach dem Brexit muss Großbritannien neue Handelsabkommen schließen - unter anderem mit den USA.
  • Das britische Umweltministerium fürchtet nun um die Verbraucherschutzstandards, da die US-Regierung versuchen dürfte, hormonbehandeltes Fleisch in Großbritannien zu verkaufen.
  • Ein solches Abkommen würde auch einen neuen Vertrag mit der EU erschweren - dabei ist Brüssel der wohl wichtigste Handelspartner von allen.

Von Alexander Mühlauer, London

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Boris Johnson nicht die großartigen Möglichkeiten preist, die seinem Land bald bevorstünden. Wenn Großbritannien erst einmal der EU entkommen sei, so die Botschaft des britischen Premierministers, werde das Vereinigte Königreich endlich Handelsabkommen schließen können, die einzig und allein dem britischen Interesse dienten. Johnson tut so, als ob die ganze Welt nur darauf warten würde, mit London ins Geschäft zu kommen. Doch sogar in der britischen Regierung gibt es starke Zweifel. Ein unter Verschluss gehaltenes Papier offenbart nun, welche Nachteile die Briten bei den Verhandlungen mit den USA fürchten.

Das Ministerium für Umwelt, Ernährung und Landwirtschaft hat seine Sicht der Dinge mit Blick auf die Gespräche mit Washington aufgeschrieben. Die Beamten warnen davor, dass die US-Regierung darauf pochen werde, Chlorhühnchen und hormonbehandeltes Fleisch in Großbritannien zu verkaufen. Man werde "unter erheblichen Druck (...) geraten, um den Forderungen der USA nachzukommen", heißt es in dem Papier, das der Organisation Greenpeace in Großbritannien zugespielt wurde. Würde London seine Verbraucherschutzstandards aufweichen, könnte dies einen "irreparablen Schaden" bedeuten, so die Verfasser des Papiers.

Dieser drohende Schaden betreffe nicht nur die Gesundheit der Bürger, Tiere und Pflanzen. Würde die Regierung in London sich auf die Forderungen aus Washington einlassen, die bislang geltenden EU-Regeln abzuschwächen, wäre dies auch ein schweres Hindernis für die Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag mit der Europäischen Union. "Die Zustimmung zu Forderungen der USA könnte unsere Fähigkeit, ein Abkommen mit der EU auszuhandeln, erheblich einschränken", heißt es in dem Papier. So würde sich die EU etwa sorgen, dass nicht konforme Waren in ihr Hoheitsgebiet gelangen könnten, wenn das Vereinigte Königreich den Forderungen der USA nachkomme, mit Chlor gewaschenes Huhn einzuführen. Ein solcher Import ist in der EU verboten.

Die in London artikulierten Ängste erinnern an die Verhandlungen über das mittlerweile verworfene TTIP-Abkommen. Als Barack Obama noch Präsident im Weißen Haus war, versuchte die US-Regierung die Verhandler der EU-Kommission zu genau diesen Zugeständnissen zu drängen. Weil Brüssel sich aber weigerte, die Lebensmittelstandards aufzuweichen, erreichten die Gespräche nie die entscheidende Phase. In den Mitgliedstaaten der EU gab es einen breiten Konsens, keine genmanipulierten Nahrungsmittel aus den USA einzuführen. Auch die damalige britische Regierung zeigte sich keineswegs dafür offen.

Verlässt London mit dem Brexit den EU-Binnenmarkt, wäre die Europäische Kommission nicht mehr für die Handelspolitik der Briten zuständig. Das würde dem Vereinigten Königreich zwar die von den Brexiteers gepriesene Möglichkeit geben, wieder selbst Handelsverträge zu schließen. Aber nachdem die EU der mit Abstand größte Handelspartner Großbritanniens ist, wird ein Vertrag mit Brüssel wohl der wichtigste von allen sein. Die EU-Kommission hat seit Beginn der Brexit-Verhandlungen allerdings klargemacht, dass sie nur zu Gesprächen über ein Freihandelsabkommen bereit ist, wenn die drei Hauptpunkte des Austrittsvertrags geklärt sind: die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien, die finanziellen Verpflichtungen Londons gegenüber der EU und die noch immer ungelöste Irland-Frage.

Trump kommt der Brexit sehr entgegen

Wie der Streit über die innerirische Grenze auch ausgehen mag, eines steht jetzt schon fest: Die britische Regierung wird diese Frage auch bei den Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag wieder einholen. Denn nach dem Brexit wird dort eine EU-Außengrenze entstehen, an der Waren und Güter kontrolliert werden müssen. Die britische Regierung hat zwar vorgeschlagen, dass Produkte aus Nordirland weiter den EU-Regeln entsprechen; aber für Güter aus dem Rest des Vereinigten Königreichs gilt diese Zusage nicht. In England, Wales und Schottland könnten also durchaus laxere Lebensmittelvorschriften als in der EU gelten. Agrarprodukte, die von dort in die EU exportiert werden sollen, müssen also überprüft werden - auch an der Grenze zu Irland.

In London regt sich mitunter starker Widerstand gegen eine Abkehr vom europäischen Verbraucherschutz. Am Montag diskutierten die Oppositionsparteien über einen möglichen Handelsvertrag mit den USA. Labour-Chef Jeremy Corbyn warnte vor einem "Trump-Deal-Brexit": "Es ist schon jetzt klar, dass Johnson unsere Standards für Lebensmittelsicherheit verwässern will. Neben anderen Dingen setzt er uns damit Chlorhühnchen und hormonbehandeltem Rindfleisch aus, die unter EU-Standards verboten sind."

Auch wenn der Premierminister nicht müde wird, davon zu sprechen, dass er den britischen Markt sehr viel weiter öffnen will als die EU dies derzeit erlaubt, stößt er dennoch an Grenzen. Als Johnson beim G-7-Treffen in Biarritz und am Rande der UN-Generalversammlung in New York mit Donald Trump über einen Handelsvertrag sprach, musste er zugeben, dass dies alles andere als einfach werde. Der US-Präsident verspricht Johnson zwar einen großartigen Deal, aber das bezieht er vor allem auf Amerika. Trump kommt der Brexit sehr entgegen, schließlich verliert die EU an wirtschaftlichem Gewicht.

Wie schwer es wiederum Großbritannien ohne die EU hat, mussten die Londoner Unterhändler bereits erfahren. So ließ sie die japanische Regierung wissen, dass Tokio gerade erst einen Vertrag mit Brüssel geschlossen habe - ein "copy and paste", wie London sich das vorstellt, werde es nicht geben.

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SZ vom 08.10.2019/vit
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