Süddeutsche Zeitung

Brexit:Der Brexit ist ein Albtraum für beide Lager

  • Theresa May versprach auf dem Parteitag der Konservativen einen harten Brexit. Dann würde das Land wohl nicht mehr vom gemeinsamen EU-Binnenmarkt profitieren.
  • Mit ihrer Linie irritiert die Premierministerin die Wirtschaftsführer im Vereinigten Königreich. Für Autokonzerne und Banken ist die fehlende Planungssicherheit verheerend.

Von Björn Finke und Thomas Fromm, London

Das Werk am Stadtrand von Sunderland hat die Ausmaße eines Dorfes: eines Dorfes aus Hallen, in denen fast 7000 Menschen für Nissan arbeiten. Jedes Jahr rollen mehr als eine halbe Million Autos aus der größten Fahrzeugfabrik des Vereinigten Königreichs. Das ist mehr, als in ganz Italien gefertigt werden. Wichtigstes Modell für das nordenglische Werk ist der Qashqai, und Nissan entscheidet demnächst, welcher Standort den Nachfolger produzieren soll. Doch Konzernchef Carlos Ghosn drohte, er könne Sunderland nicht den Zuschlag erteilen, solange die Folgen des Brexit unklar sind. Vier von fünf Autos werden von dort ins Ausland exportiert; der Handel mit dem Kontinent ist wichtig.

Premierministerin Theresa May war alarmiert und empfing Ghosn in 10 Downing Street. Dort sicherte die Konservative zu, dass der Austritt aus der EU für Sunderland keine Nachteile haben werde. Ghosn gab sich angetan: "Ich freue mich auf die weitere gute Zusammenarbeit mit der Regierung", sagte er hinterher.

Ghosn traf Theresa May, die Managerversteherin. Anfang des Monats dagegen war eine andere Theresa May aufgetreten: May, der Märkteschreck. Die Politikerin versprach auf dem Parteitag der Konservativen, dass das Königreich nach dem Brexit nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof unterliegen und die Zahl der Einwanderer kontrollieren werde. Beides ist unvereinbar mit der Teilnahme am gemeinsamen Binnenmarkt der EU. Geschäfte über den Ärmelkanal würden dann schwieriger für britische Firmen und Banken. Als Reaktion auf die harsche Rede stürzte der Kurs des Pfund ab.

Tritt die Regierungschefin zu nachgiebig auf, droht Ärger mit den Brexit-Fans im Kabinett

Die Frau mit den zwei Gesichtern irritiert die Wirtschaftsführer im Königreich - und die eigene Partei. May muss allerdings auch einen sehr schwierigen Spagat hinlegen: Der Austritt soll Großbritannien so weit wie möglich von der Einmischung aus Brüssel befreien. Tritt die Politikerin, die vor dem Referendum für den Verbleib in der EU warb, zu nachgiebig auf, droht Ärger mit den Brexit-Fans in Kabinett und Parlament. Zugleich weiß May, dass die Unternehmen auf den Zugang zum wichtigsten Exportmarkt, der EU, angewiesen sind. Doch diesen Zugang gefährdet ein "hard Brexit", eine harte Trennung, so wie sie auf dem Parteitag verkündet wurde.

Den Spagat ermöglichen soll nach Mays Worten ein "maßgeschneidertes Abkommen" zwischen Brüssel und London über die künftigen Handelsbeziehungen. Die Gespräche beginnen, sobald May die EU offiziell über den Austrittswunsch unterrichtet hat. Das will sie bis März machen. Beobachter erwarten, dass die Regierung ein Freihandelsabkommen anstrebt, das aber für wichtige Branchen wie die Finanz- und Autoindustrie weiter den ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt vorsieht. Dann könnte May ihr Wort halten gegenüber Nissan-Chef Ghosn.

Freihandelsabkommen hat die EU mit mehr als 50 Staaten abgeschlossen, zuletzt mit Kanada. Dank dieser Verträge fallen keine Zölle an. Doch andere Hindernisse bleiben, etwa unterschiedliche Standards oder bürokratische Hürden. Diese beseitigt nur der gemeinsame Binnenmarkt: Firmen und Banken mit der Zulassung in einem EU-Land können in allen anderen Mitgliedsstaaten problemlos Produkte verkaufen und Filialen eröffnen. Die eine Genehmigung wird überall anerkannt.

Das ist ausgesprochen nützlich für die Banken an Europas wichtigstem Finanzplatz London, die von dort aus Kunden auf dem ganzen Kontinent bedienen. Und es ist nützlich für die Exportindustrie, etwa die Autobranche. Erlischt dieses Privileg nach dem Brexit, könnten Londons Finanzkonzerne Zehntausende Jobs aufs Festland verlagern. Industrie-Unternehmen würden Investitionen in ihre britischen Werke kappen und lieber Fabriken in der EU ausbauen, befürchten Ökonomen. So wie es Nissan-Chef Ghosn androhte.

Norwegen ist nicht Mitglied der EU, aber des gemeinsamen Binnenmarktes. Klingt praktisch, kann jedoch kein Modell für Großbritannien sein. Denn Norwegen muss Einwanderung aus der EU akzeptieren, was May nicht will. Möglich wäre allerdings, dass einzelne Branchen weiterhin die Vorteile des Binnenmarktes genießen. So kann die EU beschließen, dass die Vorschriften eines Staates äquivalent, also gleichwertig, zu Brüsseler Regeln sind. Dann gewährt die EU den Branchenfirmen aus diesem Land ungehinderten Zugang.

Die britische Regierung wäre aber in dem Szenario an Regeln gebunden, die das bei vielen so verhasste Brüssel festlegt. Und London müsste wohl weiter einen Obulus in den Haushalt der EU entrichten - als Eintrittspreis zum Binnenmarkt. Norwegen zahlt ebenfalls in den Haushalt ein. Ein Albtraum für das Brexit-Lager.

"Die Situation ist unsicher", heißt es bei BMW in München

Ein Albtraum für Manager wiederum ist die Unsicherheit über die künftigen Handelsbeziehungen. Eine der internationalsten Branchen im Königreich ist die Autoindustrie. Die größte Fabrik des Landes betreibt in Sunderland ein Konzern aus Japan, und britische Traditionsmarken gehören Ausländern: Tata aus Indien hat Jaguar und Land Rover gekauft, Volkswagen erwarb Bentley, BMW übernahm Rolls-Royce und Mini.

BMW investierte Milliarden im Königreich und ist ein wichtiger Arbeitgeber; die Fabriken dort beschäftigen 8000 Menschen. Die Autos - im vergangenen Jahr mehr als 200 000 Minis und 4000 Rolls-Royce - werden in die ganze Welt exportiert. BMW-Vertriebschef Ian Robertson sagte zwar beim Pariser Autosalon, das Brexit-Referendum habe bislang "keine Effekte" für den Münchner Hersteller. Doch die Ungewissheit belastet: "Die Situation ist unsicher", heißt es bei BMW in München. Die "Rahmenbedingungen für die nächsten vier bis fünf Jahre" seien unklar.

Das ist Gift für einen Autokonzern, dessen Produktzyklen lang sind und dessen Planungssicherheit groß sein muss. Und es ist Gift für die britische Wirtschaft.

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SZ vom 18.10.2016/jps
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