Süddeutsche Zeitung

Brexit:Das Pfund, eine machtlose Währung

Ihre Währung war einst der Stolz der Briten, jetzt aber ist das Pfund abgestürzt wie noch nie. Manche Börsianer sagen: "Das hier ist schlimmer als Lehman".

Von Björn Finke, Nikolaus Piper, Ulrich Schäfer und Markus Zydra

In den Hochhäusern in der Square Mile, dem alten Bankenviertel, und in Canary Wharf, dem neuen Finanzviertel an der Themse, scheint auch in gewöhnlichen Nächten aus beunruhigend vielen Fenstern fahles Licht. Doch in den Stunden nach dem Referendum war es noch heller als sonst. Die Finanzinstitute hatten sehr viele Händler dazu verdonnert, Wache zu halten. Schließlich würden die Märkte auf die Hochrechnungen reagieren, das war klar.

Nicht klar war, wie heftig die Reaktion ausfallen würde: Das Pfund stürzte auf den tiefsten Stand seit drei Jahrzehnten, die Börsen in Japan und Europa brachen ein, in Frankfurt sagt später ein Händler: "Das hier ist schlimmer als Lehman." Schlimmer also als das Beben im September 2008, als die Finanzkrise begann.

Kurzzeitig stieg der Wert des Pfund auf 1,50 Dollar - dann brach er ein

Die Banken in London bereiteten sich auf die Brexit-Nacht sorgsam vor. Der US-Konzern JP Morgan buchte Cateringfirmen und Hotelzimmer in der Nähe seines Glasturms in Canary Wharf. Die Royal Bank of Scotland (RBS) setzte bei der Verpflegung schnöde auf einen Nachbarn: "Auf der anderen Straßenseite ist bei uns ein 24-Stunden-McDonald's", sagte RBS-Volkswirt Ross Walker. Auch der Betreiber des Stromnetzes, National Grid, stellte sich auf diese Schicksalsnacht ein: Banker, die durcharbeiten, viele Briten vor dem Fernseher - das Unternehmen orderte bei den Kraftwerken extra viel Strom.

Wie nervenaufreibend die Nacht werden würde, ahnte aber kaum jemand. Nach Schließung der Wahllokale berichteten Fernsehsender, dass das Pro-EU-Lager Umfragen zufolge vorne liegt. Auf den Wahlpartys jubelten die Austritts-Gegner, und an den Devisenmärkten gewann das Pfund an Wert - es stieg auf den höchsten Kurs seit neun Monaten, kurz vor Mitternacht kostete es 1,50 Dollar.

Doch als die ersten Ergebnisse aus den Wahlkreisen eingingen, brach das Pfund ein - um zwei Uhr früh kostete es nur noch 1,45 Dollar. Als die Sonne schließlich aufging, an einem strahlend schönen Morgen, und klar war: Die Briten haben mit Nein gestimmt, da war der Kurs auf 1,33 Dollar gefallen - was für ein historischer Absturz.

Das Pfund symbolisierte einst die Macht des britischen Empire

Das Pfund ist - oder muss man sagen: es war? - so etwas wie die Währung der Währungen. Es ist das bei Weitem älteste noch im Gebrauch befindliche Zahlungsmittel. Einst symbolisierte es die Macht des britischen Empire. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden die meisten internationalen Finanzgeschäfte damit abgewickelt. Seit dem Zweiten Weltkrieg spiegelte sich der schmerzhafte Abschied vom Weltreich und die Suche nach einer neuen Identität in einer langen Reihe von Pfundkrisen, von denen die vermutlich schwerste am Freitagmorgen begonnen hat.

Wer verstehen will, was das Pfund für Britanniens Seele bedeutet, muss weit zurückgehen. Dann wird auch klar, warum die Briten niemals den Euro haben wollten und warum sie jetzt rauswollen aus der EU. Die Wurzeln des Pfund reichen 1200 Jahre zurück. Im achten Jahrhundert führten die angelsächsischen Könige auf der Insel einen Silberpfennig ein. Dabei wurden aus einem Pfund Silber 240 Pfennige geschlagen. Das Pfund war somit Gewichts- und Währungseinheit. Der Name "Pfund Sterling" tauchte erstmals 1078 auf. Wo er genau herkommt, ist unklar, Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, vermutete, dass damit eine bestimmte Qualität des Silbers gemeint war.

In seinen Anfängen war das Pfund alles andere als solide, sondern anfällig für Betrug wie die meisten anderen Währungen auch. 1121 ließ Heinrich I. insgesamt 92 Arbeiter der königlichen Münze kastrieren, weil sie angeblich schlechte Münzen geschlagen hatten. Die englischen Silberpfennige blieben das ganze Mittelalter hindurch wichtig. Der eigentliche Aufstieg des Pfund Sterling zur Weltwährung begann jedoch 1688 mit der "Glorreichen Revolution", als in England der Absolutismus endete und der Weg zum modernen Verfassungsstaat begann. König Wilhelm III. von Oranien, den die Revolution auf den Thron gebracht hatte, gab 1694 die Lizenz zur Gründung der Bank of England, die von da an über das Pfund wachen sollte. Sie gab Pfundnoten aus, die nicht mehr durch Silber, sondern durch Gold gedeckt waren.

Der Spruch "so sicher wie die Bank von England" gilt nicht mehr

Für über 200 Jahre blieb die Bank Inbegriff der Solidität. Bis heute sagt man: Etwas ist "so sicher wie die Bank of England". So konnte London zum ersten Finanzplatz der Welt werden, der Geldleute aus der ganzen Welt anzog wie Nathan Rothschild und viele andere. Die Rechtssicherheit Londons war der Hintergrund für die Stärke des Pfundes. Wie andere Währungen auch war das Pfund zu einem festen Kurs an Gold gebunden. Der Goldstandard schuf eine verlässliche Grundlage für den Welthandel, bei dem das Vereinigte Königreich und der Commonwealth lange die entscheidende Rolle spielten.

Der erste Schlag für das Pfund kam mit dem Ersten Weltkrieg. Das Vereinigte Königreich gehörte zwar zu den Siegern, war aber wirtschaftlich schwer angeschlagen. Wesentliche Teile der Eliten in London erkannten jedoch nicht, dass sich die Zeiten mit dem Krieg grundlegend gewandelt hatten. Schatzkanzler Winston Churchill setzte 1925 durch, dass das Pfund zum 1914 zusammengebrochenen Goldstandard zurückkehrte - gegen den dringenden Rat des Ökonomen John Maynard Keynes. Es war ein historischer Fehler, der das Vereinigte Königreich auf Jahre seine Wettbewerbsfähigkeit kostete.

Mit der Krise des Pfund begann die Annäherung an Europa

Als 1944 eine Konferenz der Alliierten in Bretton Woods in den USA die Währungsordnung der Nachkriegszeit entwarf, war klar, dass das Pfund seine Führungsrolle an den Dollar abgeben würde. Richtig in die Krise geriet das Pfund allerdings erst nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods 1971. Damals begannen auch die zögerlichen und widersprüchlichen Annäherungen Londons an Europa. Im April 1972 trat das Pfund der "Europäischen Währungsschlange" bei, einem Verbund europäischer Währungen unter Führung der D-Mark, deren Kurse fest vereinbart waren. Der Eintrittskurs des Pfundes war jedoch zu hoch, deshalb musste London bereits im Juni 1972 das Pfund wieder abmelden. 1976 brach die große Sterlingkrise aus. Sie war so schwer, dass London die Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch nehmen musste - ein beispielloser, demütigender Akt für eine ehemalige Weltmacht.

1990 kam die nächste Annäherung an Europa: Die britische Regierung trat dem europäischen Währungssystem (EWS) bei, der Vorform der Währungsunion. Doch wieder war der Einstiegskurs zu hoch. Die Finanzmärkte hatten das sofort verstanden. Der Großinvestor George Soros legte sein Meisterstück ab: Er wettete so aggressiv gegen das Pfund, dass die Bank of England kapitulierte und die Regierung nachgeben musste: Am 16. September 1992 trat London wieder aus dem EWS aus, was als "Schwarzer Mittwoch" in die Geschichte eingehen sollte.

Die Bank of England tat am Freitag alles, um eine Wiederholung dieser Krise zu verhindern. Ihr Chef Mark Carney versicherte frühmorgens, als er müde von der Nacht ans Rednerpult trat, in vielen Worten, dass die Bank nicht zögern werde, das Finanzsystem zu unterstützen. Würden Banken in Not geraten, könnten die Währungshüter sofort mehr als 250 Milliarden Pfund zur Verfügung stellen. Solch irrwitzige Hilfspakete hatte man zuletzt in der Finanzkrise 2008 gesehen.

Aber reicht das, um die Märkte zu beruhigen? In Frankfurt sitzt an diesem Morgen der Aktienhändler Oliver Roth, 48, vor seinem Computer, er arbeitet seit 25 Jahren hier. Ende der 1980er-Jahre war er Fußballprofi bei Borussia Dortmund, später bei Kickers Offenbach. Der großgewachsene Direktor der Oddo-Seydler-Bank erinnert sich an die letzten Tage vor dem Brexit. Londoner Buchmacher hatten verkündet, dass die Briten mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU stimmen würden, der Dax stieg in der Folge um sieben Prozent. "Alle an der Börse sind den Buchmachern gefolgt", sagt Roth fassungslos. "Das habe ich noch nie erlebt."

London wird kaum weiter das Finanz-Tor zur Welt bleiben können

Der Brexit bringt für Roth alles durcheinander. Er erzählt, wie er mit den Kollegen in London jeden Tag in Kontakt steht. Dort ist das Tor zur Welt, etwa für Aktiengeschäfte mit China. "Das ist jetzt vorbei, der EU-Pass geht flöten", sagt der Aktienhändler. Der EU-Pass erlaubt es US-Banken und Banken des Commonwealth, Filialen im ganzen EU-Gebiet zu eröffnen. Ohne EU-Mitgliedschaft gibt es aber keinen EU-Pass. "Die Banken müssen raus aus London, sonst können sie in der EU keine Geschäfte mehr machen", sagt Roth.

Die Entscheidung für den Austritt bedroht in London mithin viele Jobs. US-Häuser wie Goldman Sachs oder JP Morgan hatten bereits vor der Abstimmung angekündigt, im Falle eines Brexit Tausende Jobs in Euro-Staaten zu verlagern. Auch die Deutsche Bank hat eine Arbeitsgruppe zur Zukunft der Londoner Filiale eingerichtet. Und wohin gehen all die Banker aus London? "Frankfurt ist der Profiteur der Brexit-Entscheidung", glaubt Roth.

Andererseits werden auch die Händler in Frankfurt leiden, sollte nun die ganz große Krise an den Börsen kommen - eine Sorge, die Roth teilt. Die Pleite von Lehman Brothers sei eine Katastrophe gewesen, klar, aber das habe man "innerhalb von drei Jahren gelöst", sagt er. "Beim Brexit geht es um mehr, der Bestand der EU ist in Gefahr, die Zukunft aller Bürger steht auf dem Spiel. Dieser Freitag kann der Beginn eines langen Crashs sein."

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Quelle:
SZ vom 25.06.2016/vit
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