Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:London sucht Hilfe in Europa

An britischen Tankstellen geht das Benzin aus. Es fehlen Lkw-Fahrer, die den Sprit dorthin bringen. Jetzt vollzieht die Regierung eine Kehrtwende nach dem Brexit: Sie vergibt nun doch Visa an Fernfahrer aus der EU.

Von Alexander Mühlauer, London

Seit drei Tagen steht das gelbe Schild jetzt schon vor der Shell-Tankstelle an der Richmond Road. "Sorry, Kraftstoff ist vorübergehend nicht verfügbar", heißt es darauf. Und an den Zapfsäulen: "Sorry, außer Betrieb."

Wann es wieder Benzin und Diesel gibt? Die Mitarbeiterin an der Kasse zuckt an diesem Sonntagvormittag etwas hilflos mit den Schultern. Es soll eine Lieferung kommen, sagt sie, aber wann genau, wisse sie nicht. Sorry.

Ein paar Hundert Meter weiter sieht es besser aus. An der BP-Tankstelle, die am Samstag schließen musste, gibt es wieder Sprit. Und damit eine lange Schlange. Dutzende Autos stehen an diesem Sonntag im Londoner Südwesten eng hintereinander. Und nicht nur dort. In ganz Großbritannien kam es über das Wochenende zu Staus vor den Tankstellen.

Es waren offensichtlich diese Bilder, die Boris Johnson zu einer abrupten Kehrwende gezwungen haben. Nachdem der britische Premier und seine Ministerriege wochenlang behauptet hatten, dass der Brexit nichts mit den Versorgungsengpässen zu tun habe, zog Johnson, wie die Sunday Times es ausdrückte, schlussendlich die Handbremse. So gesehen legte der Premier einen gewaltigen U-Turn hin.

In der Nacht zum Sonntag teilte das Verkehrsministerium in London mit, dass von Oktober an Tausende Arbeitsvisa für ausländische Lkw-Fahrer ausgestellt werden sollen, um die Lieferprobleme in den Griff zu bekommen. "Boris hat die schlechten Schlagzeilen völlig satt und möchte, dass es gelöst wird, er schert sich nicht mehr um Visaregeln", zitierte die Financial Times einen "Verbündeten" Johnsons.

Aus der Wirtschaft kommt Kritik: "Das ist, als ob man ein Lagerfeuer mit einem Fingerhut Wasser löschen will."

Nun sollen die strikten Einwanderungsvorschriften erstmals seit dem Brexit großzügig gelockert werden. Die Regierung will 5000 Lkw-Fahrer und 5500 Facharbeiter für die Geflügelverarbeitung ins Land holen, allerdings nur für drei Monate. Die Aktion soll laut Verkehrsministerium "sicherstellen, dass die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit im Plan bleiben". Oder etwas zugespitzt formuliert: Billige Arbeitskräfte aus Osteuropa sollen dafür sorgen, dass es im Vereinigten Königreich genug Truthähne zum Christmas Dinner gibt. Ganz zu schweigen von anderen Lebensmitteln, mit denen die Supermärkte versorgt werden müssen.

Die britische Wirtschaft leidet seit Wochen unter erheblichen Lieferproblemen. Laut dem Branchenverband Road Haulage Association fehlen etwa 100 000 Lkw-Fahrer. Es gibt einfach nicht genug Menschen, die Waren von A nach B bringen können - oder eben Benzin an die Tankstellen. Die britische Regierung verweist darauf, dass der Fahrermangel ein weltweites Problem sei. Wegen der Corona-Pandemie hätten viele ihren Job als Fernfahrer aufgegeben, vor allem Ältere gingen in den Ruhestand. Und diejenigen, die Lastwagen-Lenker werden wollten, konnten es nicht, weil die Fahrschulen während des Lockdowns geschlossen waren. Es war schlichtweg nicht möglich, einen Lkw-Führerschein zu machen.

Probleme wie diese gibt es auch in anderen Ländern, aber in Großbritannien hat der Brexit den Mangel an Lkw-Fahrern noch verschärft. So sieht es jedenfalls die britische Wirtschaft. Vertreter der Logistikbranche und des Einzelhandels begrüßten deshalb die Ankündigung der Regierung, 5500 Arbeitsvisa für ausländische Lastwagen-Lenker zu erteilen. Sie machten aber auch klar, dass dieser Schritt nicht ausreicht, um das Problem langfristig zu beheben.

Allein die Supermärkte benötigten mindestens 15 000 Lkw-Fahrer, damit die Geschäfte vor Weihnachten mit voller Kapazität arbeiten und Lieferprobleme vermieden werden, sagte etwa Andrew Opie vom Einzelhandelsverband British Retail Consortium. Auch die Präsidentin der Britischen Handelskammer, Ruby McGregor-Smith, kritisierte, die Maßnahmen reichten bei weitem nicht aus: "Das ist, als ob man ein Lagerfeuer mit einem Fingerhut Wasser löschen will."

Der Chef des Industrieverbands CBI sagt: "Man kann Gepäckabfertiger nicht über Nacht in Metzger verwandeln."

Die Regierung machte am Wochenende deutlich, dass sie nicht daran denkt, sich weiter von der Wirtschaft unter Druck setzen zu lassen. Das Verkehrsministerium betonte einmal mehr, dass der Import von Arbeitskräften aus dem Ausland keine nachhaltige Lösung sei. Die Unternehmen sollen stattdessen dafür sorgen, den Job des Lkw-Fahrers für Einheimische attraktiver zu machen. Das heißt vor allem: bessere Arbeitszeiten einführen und höhere Löhne bezahlen.

Die Regierung will ihrerseits kostenlose Umschulungen anbieten. Insgesamt soll es zusätzliche 50 000 Fahrprüfungen pro Jahr geben. Um den Fahrermangel kurzfristig zu mildern, werden außerdem etwa eine Million Briefe an ehemalige Lkw-Lenker verschickt, um sie von einer Rückkehr in den Beruf zu überzeugen. Fahrlehrer des britischen Militärs sollen dabei helfen, die während der Pandemie ausgefallenen Fahrprüfungen nachzuholen. Der Industrieverband CBI kritisierte die Haltung der Regierung, vor allem auf Ausbildung zu setzen. "Man kann Gepäckabfertiger nicht über Nacht in Metzger verwandeln oder Ladenbesitzer in Köche", sagte CBI-Chef Tony Danker der BBC.

Bleibt die Frage, ob die Visa-Aktion der Regierung überhaupt den gewünschten Effekt bringt. Der Branchenverband Road Haulage Association zweifelt jedenfalls daran, dass genügend Lkw-Fahrer auf die Insel kommen. Die Zeit sei knapp, und es sei fraglich, ob Fahrer, die auch in der EU händeringend benötigt würden, sich auf ein zeitlich begrenztes Abenteuer einließen, sagte Verbandsmanager Rod McKenzie der Nachrichtenagentur PA. Vor der Pandemie arbeiteten laut Nationalem Statistikamt ONS insgesamt 37 000 Lkw-Fahrer aus der EU in Großbritannien. Davon haben seit Ausbruch des Coronavirus etwa 13 500 das Land verlassen. Wie viele von ihnen nach dem Brexit wiederkommen, ist völlig offen.

Wie es aussieht, will Johnson mit seiner Visa-Kehrtwende nun vor allem eines verhindern: Proteste gegen die Regierung, wie es sie im Jahr 2000 gab. Damals demonstrierten Lkw-Fahrer landesweit gegen hohe Spritpreise. Sie blockierten die Zufahrtswege zu Raffinerien und legten den Verkehr auf Autobahnen lahm. Ein Albtraum für den damaligen Labour-Premier Tony Blair.

Bislang gibt es keine groß angelegten Demonstrationen gegen Johnsons Tory-Regierung. Ob es dabei bleibt, hängt wohl davon ab, wie lange es an den Tankstellen noch heißt: "Sorry, außer Betrieb".

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