Süddeutsche Zeitung

Bremse für die Wirtschaft:Schattenseiten des deutschen Erfolgs

Deutschland hat sich vom kranken Mann Europas zur wirtschaftlichen Lokomotive hochgearbeitet. Das Ausland staunt und sucht nach dem Rezept des deutschen Erfolges. Doch der steht auf einem wackeligen Fundament.

Von Simon Nixon, Wall Street Journal Deutschland

Während ganz Europa zum Urlaub an die Küsten aufbricht, bereitet sich die deutsche Politik auf die Bundestagswahl im September vor. Der Wahlkampf dafür erweist sich bisher als eher leblose Veranstaltung: Der Wirtschaft geht es gut, der Lebensstandard der Deutschen steigt und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in Meinungsumfragen einen satten Vorsprung.

Gleichzeitig begrenzt Merkels Eigenart, sich populäre Themen wie die Einführung eines Mindestlohns zu Eigen zu machen, den politischen Spielraum anderer Parteien. Zwar besteht rechnerisch die Möglichkeit, dass SPD und Grüne zusammen genug Sitze gewinnen, um ein Koalition zu bilden; aber selbst hochrangige Oppositionspolitiker geben im Vertrauen zu, dass sie eine weitere Amtszeit Merkels erwarten - womöglich auch in der gleichen Konstellation mit der FDP.

Die Nachbarstaaten können nur mit Neid nach Deutschland schauen und darüber staunen, wie sich das Land in weniger als einem Jahrzehnt vom "kranken Mann Europas" zur wirtschaftlichen Lokomotive des Kontinents gewandelt hat.

Berlin gilt als "hip", Deutschland als Vorbild

Ausländische Regierungen sind in den vergangenen Jahren in Scharen nach Berlin geströmt, um das Geheimnis des deutschen Erfolges zu erfahren. Die Zahl der Deutschland-Besuche britischer Minister und Beamter habe sich seit 2010 vervierfacht, berichten Insider aus dem Außenministerium.

Selbst Londons Bürgermeister Boris Johnson, der auch deswegen Karriere machte, weil er am rechten Rand seiner Partei fischte, zeige sich jüngst überrascht, dass die Deutschen angesichts ihrer Erfolge nicht "ihre Hacken zusammenschlagen oder ihre Arme zum Faschisten-Gruß heben". Stattdessen bezeichnete er Berlin als "hip" und ermutigte die Briten, sich Deutschland zum Vorbild zu nehmen.

In Wahrheit sind die Dinge aber niemals so, wie sie nach außen scheinen. Hinter den beeindruckenden Wirtschaftsdaten versteckt sich eine dunkle Seite des deutschen Erfolges. Deutschland mag in den Jahren 2010 und 2011 dank der boomenden Nachfrage aus China und anderen Schwellenländern ein robustes Wachstum erzielt haben. Zwischen 1999 und der Einführung des Euro gehörte Deutschland aber auch zu den Wachstumsschlusslichtern der Eurozone - und das trotz der Rezession in den Peripheriestaaten.

Bedenklicher ist, dass Deutschlands längerfristiges Wachstumspotenzial ohne strukturelle Reformen aus Berlin womöglich nicht so stark ist wie oft behauptet wird. Geringe Investitionen, eine schwache Arbeitsproduktivität und eine schrumpfende Bevölkerung drohen die Wirtschaft zu bremsen. Deutschland ist bereits nahe an der Vollbeschäftigung. In diesem Umfeld zu wachsen ohne gleichzeitig Inflation zu erzeugen, könnte sich als schwierige Herausforderung erweisen.

Mehr Beschäftigung zu Lasten der Investitonen

Einige der Probleme, denen sich Deutschland gegenübersieht, sind die Kehrseite seiner jüngsten Erfolge. Die Agenda 2010, die der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder vor einem Jahrzehnt einführte und die Berlin häufig als Modell erfolgreichen Strukturwandels hochhält, war nicht annähernd so radikal wie gerne behauptet wird.

Gelungen ist Berlin eine Reform der Sozialversicherung, die Anreize für Arbeitslose geschaffen hat, wieder arbeiten zu gehen. Als Folge wuchs das Arbeitsangebot, was die Gehälter niedrig hielt, die Lohnstückkosten im Vergleich zu anderen Eurostaaten verringerte und Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit einen Schub verlieh.

Die Reformen spornten auf der anderen Seite jedoch die Unternehmen an, mehr Arbeitskräfte einzustellen - zu Lasten der Investitionen. Die Folgen werden jetzt allmählich sichtbar. Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in Europa.

"Im Jahr 2008 arbeiteten fast sieben Millionen Deutsche beziehungsweise fast 20 Prozent aller Angestellten für Niedriglöhne, also für weniger als 9 Euro die Stunde", sagt Sebastien Dullien, Politik-Experte am European Council on Foreign Relations. In den unteren Einkommensschichten seien die Reallöhne zwischen 2000 und 2006 gefallen.

Die Konsequenz ist jedoch, dass die deutsche Arbeitsproduktivität im vergangenen Jahrzehnt zu den schwächsten in der Eurozone zählte. Die Investitionen des privaten und des öffentlichen Sektor - also der Schlüssel für künftiges Wachstum - gehörten sogar zu den geringsten aller Industrieländer, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

"Im Jahr 1999 lag die Investitionsquote bei etwa 20 Prozent, heute beträgt sie weniger als 17 Prozent", schrieb Fratzscher in einer Studie. Seit 1999 habe Deutschland im Schnitt eine jährliche Investitionslücke von drei Prozent gehabt, was mehr als 40 Prozent des deutschen BIP entspreche.

Ein gefährlicher Trend

Die Lage spitzt sich zu: Die Bruttoanlageinvestitionen sinken seit fünf Quartalen kontinuierlich, sodass die Investitionsausgaben mittlerweile 5 Prozent niedriger liegen als Ende 2011, hat Huw Pill, Chefvolkswirt bei Goldman Sachs GS +2,07% ermittelt.

Für ein Land, dessen Wirtschaft in einem immensen Maße von forschungsintensiven Branchen abhängt, ist das ein gefährlicher Trend. Statt den gewaltigen Spar-Überschuss des Privatsektors in Deutschland zu nutzen, um Investitionen in der Heimat zu finanzieren, fließt das Geld aus dem deutschen Finanzsystem tendenziell eher ins Ausland - oft mit desaströsen Ergebnissen.

"Allein von 2006 bis 2012 summierten sich die Verluste [aus Auslands-Anlagen] auf 600 Milliarden Euro, das sind 22 Prozent des deutschen BIP", sagt Fratzscher. "Wäre dieses Geld im Inland investiert worden, hätte das jährliche Pro-Kopf-Wachstum in Deutschland um bis zu einen Prozentpunkt höher sein können."

Natürlich mag ein Teil der jüngsten Investitionsschwäche zyklisch bedingt sein, meint Pill. Die wirtschaftlichen Bedingungen für Investitionen sind derzeit günstig, denn die Finanzierungskosten sind niedrig, die Bilanzen der Unternehmen gesund. Einige Ausgaben dürften jedoch zurückgehalten worden sein, sei es wegen der Sorgen um die Eurozone oder wegen der unklaren politischen Lage in Deutschland im Vorfeld der Bundestagswahl im September - schließlich drohen sowohl die Grünen als auch die SPD mit Steuererhöhungen.

Aber auch so kann sich Berlin keine Selbstgefälligkeit erlauben. Deutschland muss etwas tun, um höhere Investitionen zu fördern, die die Produktivität stärken und bessere Wachstumsbedingungen schaffen. Angesichts einer Staatsverschuldung von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts müssen diese Investitionen zwangsläufig vor allem aus dem Privatsektor kommen und nicht aus der Staatskasse. Allerdings ist der Staat am Zug, wenn es darum geht, die nötigen steuerpolitischen und regulatorischen Anreize zu schaffen, die die Privatwirtschaft dazu bringen, langfristige Wetten auf die Zukunft des Landes einzugehen.

Klarer regulatorischer Rahmen statt wechselnder Prioritäten

So müsste Deutschland jährlich bis 38 Milliarden Dollar in die Energie-Infrastruktur stecken, wenn es die Abkehr von der Atomenergie vollenden und seine ehrgeizigen Ziele für erneuerbare Energien erreichen will, schätzt Fratzscher. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine klarer regulatorischer Rahmen nach Jahren ständig wechselnder Prioritäten.

Deutschland muss außerdem jährlich rund 11 Milliarden Euro investieren, um die vernachlässigten Transportnetze aufzurüsten. Gleichzeitig würde eine weitere Deregulierung des Dienstleistungssektors, gegen die sich Berlin lange gesperrt hat, helfen, die Produktivität zu anzutreiben.

Sollte Berlin diesen Weg gehen, würde das zusätzliche Wachstum nicht nur Deutschland gut tun, sondern ganz Europa. Andernfalls ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis Deutschland wieder zum kranken Mann wird.

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