Brasiliens Wirtschaft:Sogar Christus steckt in der Krise

In Brasilien warten Beamte auf ihr Geld, mit der Wirtschaft geht es nur bergab.

Von Boris Hermann, Rio de Janeiro

Die brasilianische Wirtschaftskrise ist ganz oben angekommen, auf dem 710 Meter hohen Berg Corcovado, wo der berühmte Cristo Redentor auf Rio de Janeiro hinabblickt. Die Erzdiözese der Stadt bittet um Spenden, um die notwendigen Renovierungsarbeiten der Speckstein-Statue in Höhe von rund 1,4 Millionen Euro pro Jahr bezahlen zu können. Der Cristo, seit 2012 Weltkulturerbe, braucht auch dringend neue Blitzableiter. Vor nicht allzu langer Zeit hat ihm ein Blitz den Mittelfinger der rechten Hand abgeschlagen.

Der Bundesstaat Rio de Janeiro ist das Zentrum der krisengeplagten brasilianischen Ölindustrie. Er ist er vom dem allgemeinen Abwärtstrend der vergangenen zwei Jahre deshalb besonders betroffen. Die Landesregierung hatte bereits im Juli den Finanznotstand erklärt. Was noch in den Kassen übrig war, wurde für die Olympischen Spiele im August ausgegeben. Seit Monaten werden in Rio die Gehälter im öffentlichen Dienst entweder unregelmäßig oder gar nicht bezahlt. Polizeiautos bleiben stehen, weil das Geld zum auftanken fehlt und die Aufzüge in den Behörden stecken fest, weil sie nicht mehr gewartet werden. Mancherorts fällt auch tagelang das Licht aus, oder noch schlimmer: die Klimaanlage.

Dass die einstmals als Vorzeigeprojekte angepriesenen Seilbahnen in den Favelas "Morro da Providencia" und "Complexo do Alemão" inzwischen still stehen, wundert kaum. Im Zweifelsfall wird unter der neuen Bundesregierung des konservativen Präsidenten Michel Temer, 76, erst einmal ganz unten gekürzt. Wenn in dem Land mit den meisten Katholiken der Welt aber selbst Christus, der Erlöser, Geldsorgen hat, dann steht fest: Die Rezession ist überall.

Die immer noch größte Volkswirtschaft Lateinamerikas steckt in einer ihrer schwersten Krisen seit den Dreißigerjahren. Rein statistisch war es Mitte der Achtziger Jahre genauso schlimm. Damals, am Ende der Militärdiktatur, gingen der Wirtschaftsabschwung und die Inflation allerdings mit einer politischen Aufbruchsstimmung einher. Diesmal macht die politische Lage alles noch schlimmer.

Die Menschen misstrauen dem Präsidenten. Er ist wohl in Korruption verstrickt

Im September hatte Temer seine Vorgängerin Dilma Rousseff in einem mehr als dubiosen Amtsenthebungsverfahren gestürzt. Viele Brasilianer halten ihn deshalb für eine Putschisten. Jüngsten Umfragen zufolge wird er von weniger als zehn Prozent der Wähler unterstützt. Tendenz fallend. Sechs seiner Minister musste er in den ersten Monaten seiner Amtszeit wegen allzu offensichtlicher Korruptionsverstrickungen entlassen. Auch der Präsident selbst rückt zunehmend in den Fokus der Ermittlungen. Das ganze Land wartet gespannt auf die Kronzeugenaussage von Brasiliens größtem Bauunternehmer Marcelo Odebrecht, der im Zuge der sogenannten Operation "Lava-Jato" (Autowäsche) bereits zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde. Nach allem, was bisher durchsickerte, wird Temer von Odebrecht schwer belastet. Der Präsident, der nie eine Wahl gewonnen hat, ist offiziell bis Ende 2018 im Amt. Derzeit sind große Zweifel angebracht, ob er so lange durchhält.

Getäuscht haben sich all diejenigen Analysten, die glaubten, mit Temer und seinem unternehmerfreundlichen Kabinett würde sich zumindest die Wirtschaft rasch erholen. Vor allem internationale Anleger hatten darauf gewettet, dass mit der Absetzung von Dilma Rousseff und ihrer linksgerichteten Arbeiterpartei die Trendwende eingeleitet sei. Davon kann aber keine Rede mehr sein. Von Juli bis September ging das Bruttoinlandsprodukt um 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorquartal zurück. Am Ende des laufenden Jahres dürfte die Rezession bei rund 3,5 Prozent liegen. Das leichte Wachstum, das die Regierung für 2017 anpeilt, muss sie regelmäßig nach unten korrigieren. Die allgemeine Krisenstimmung und die politische Unsicherheit machen sich auch beim Konsumklima bemerkbar. Weder den Unternehmen noch den Verbrauchern ist nach Investitionen zumute. Zwar hat die Zentralbank den Leitzins gerade auf 13,75 Prozent gesenkt, damit gehört er aber immer noch zu den höchsten der Welt.

Das erste große Projekt der Regierung Temer, um die Wirtschaft zu fördern, hat bislang vor allem Straßenproteste provoziert. Es geht um einen Verfassungszusatz, der eine Haushaltsbremse für die kommenden 20 Jahre festschreibt. In dieser Zeit sollen die Staatsausgaben lediglich um die Inflationsrate des Vorjahres erhöht werden dürfen. Kritiker befürchten, dass dadurch fundamentale Rechte auf Bildung, Gesundheit und Sicherheit der ärmsten Bevölkerungsschichten bedroht seien. Ein Berater der Vereinten Nationen bezeichnete den Plan als eine "Verletzung der Menschenrechte". Die Fortschritte bei der Armutsbekämpfung aus der jüngeren Vergangenheit würden damit aufgegeben.

In den vergangenen Wochen kam es landesweit zu teilweise gewalttätigen Protesten gegen den Plan. Schüler und Studenten besetzten mehr als 1000 Schulen und Fakultäten. Trotzdem soll der Verfassungszusatz wohl am Dienstag vom Senat in Brasília verabschiedet werden. Temer glaubt, dass der marode Staatshaushalt diese Maßnahme allemal legitimiert. Das brasilianische Volk hatte bei den vergangenen Wahlen Ende 2014 allerdings für eine grundlegend andere Politik gestimmt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: