Süddeutsche Zeitung

Brasilien:Mitten im Sturm

Nach der Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff hofft die deutsche Exportindustrie auf einen Neuanfang.

Von Benedikt Müller, São Paulo

Auf den Hügeln rechts und links der Autobahn prangen sie überall: die meterhohen Metallgerüste, an denen für gewöhnlich große Werbebanner hängen. Wer vorbeifährt, soll sehen, welches Smartphone er sich kaufen, mit welcher Fluglinie er mal verreisen könnte. Doch je weiter der Bus an diesem Vormittag ins Landesinnere fährt, desto mehr Plakatwände sind ungenutzt. "Anuncie aqui" steht da geschrieben, in weißen Lettern auf schwarzem Grund: Hier könnte Ihre Anzeige stehen. Ein paar Kilometer weiter stehen nur noch die Gerüste in der Landschaft. Da will sowieso niemand werben.

Schlechtes Zeichen für ein Land, dessen Wirtschaftsleistung zu mehr als 80 Prozent vom Binnenkonsum abhängt. Seit der Jahrtausendwende haben sich die Brasilianer ihr Wirtschaftswunder fast von selbst beschert. Millionen Menschen haben Arbeit gefunden, Geld ausgegeben, Kredite aufgenommen. Immer in der Hoffnung, morgen ginge es ihnen besser als heute. Jahrelang hat das geklappt. Die hohe Nachfrage nach Eisenerz und anderen Rohstoffen brachte Geld ins Land. Die regierende Arbeiterpartei (PT) investierte in Sozialprogramme - und in Prestigeprojekte für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele, die in drei Monaten beginnen.

Doch dann hat sich zusammengebraut, was man in Brasilien heute "den perfekten Sturm" nennt: Mit den Rohstoffpreisen sind die Exporterlöse eingebrochen. Investoren haben ihr Geld abgezogen, seitdem sie wieder auf Zinsen in den USA hoffen können. Die Landeswährung Real hat um die Hälfte abgewertet. So werden Waren aus dem Ausland für Brasilianer immer teurer. Vor allem Öl- und Baufirmen entlassen Beschäftigte; schon jetzt sind so viele Menschen arbeitslos wie zuletzt 2009. Und die Industrieproduktion geht weiter zurück. Dass morgen alles besser wird, es ist nur noch eine vage Hoffnung.

Mitten im Sturm zerfleischt sich die Politik selbst. Das halbe Parlament ist in einen Korruptionsskandal um die Ölfirma Petrobras verwickelt. Mit Schmiergeldern sicherten sich Firmen jahrelang Aufträge des halbstaatlichen Konzerns; Politiker verdienten mit, durch alle Parlamentsbänke. Ob sich auch Präsidentin Dilma Rousseff bereichert hat, ist nicht bewiesen. Trotzdem brach der wichtigste Koalitionspartner PMDB mit der unbeliebten Präsidentin. Weil sie gegen Haushaltsregeln verstoßen haben soll, ist Rousseff seit Donnerstag für ein halbes Jahr vom Amt enthoben. Kritiker sprechen von einer Farce. Ausgang ungewiss. Denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Aufschwung.

In einem Schulungsraum in Campinas, 100 Kilometer nördlich von São Paulo, treffen sich seit diesem Morgen sechs Kfz-Mechaniker, die in freien Werkstätten arbeiten. Das deutsche Unternehmen Bosch hat sie zu einer Fortbildung eingeladen. Die Mechaniker lernen das Diagnosesystem eines Motors kennen, den der Zulieferer in Brasilien verkauft. So finden sie schneller heraus, woran es bei einem Fahrzeug hakt. Im Gegenzug verpflichten sich die Werkstätten, Bosch-Produkte zu kaufen.

Die (nicht ganz selbstlose) Ausbildung ist ein Mittel, mit dem Bosch gegen den Abschwung kämpft. Knapp 9000 Menschen beschäftigt die Firma in Brasilien; es waren mal mehr. Doch seit 2013 ist die Auto-Produktion in dem Land um 35 Prozent eingebrochen; deshalb mussten Mitarbeiter gehen. "Wir leiden stark in diesem Jahr", sagt Lateinamerika-Chef Besaliel S. Botelho. Alleine in 2015 ist Boschs Umsatz in Südamerika um 13 Prozent zurückgegangen.

Er hängt maßgeblich von Motoren und Zubehör ab. Statistisch gesehen teilen sich in Brasilien fünf Menschen ein Auto. Da ist noch viel Potenzial, glaubt Botelho. Doch weil die Banken kaum noch Kredite vergeben, bekommen die Fabriken ihre Autos nicht los. "Was wir wieder brauchen, ist das Vertrauen der Konsumenten", sagt Botelho. "Es ist kein Problem des Marktes, es ist ein politisches Problem." Rousseff habe die Probleme nicht gelöst: die aufgeblähte Verwaltung, die Arbeitskosten, die Infrastruktur. "Wir brauchen einen Neustart."

Am Donnerstag hat Interimspräsident Michel Temer seine Regierung vorgestellt. Er will Staatsausgaben kürzen, Firmen privatisieren und Investitionen stärken. "Wir wollen die Arbeitslosenzahl reduzieren", kündigt der 75-Jährige an. Er sagt aber auch: "Wir haben nicht viel Zeit." Selbst wenn Rousseff nicht zurückkehrt, steht schon 2018 die nächste Präsidentschaftswahl an. Und auch Temer ist in den Petrobras-Skandal verwickelt, wenngleich es bislang keine Anklage gegen ihn gibt.

"Brasilien hat das kleinteiligste Parlament der ganzen Welt", warnt Ricardo Sennes, Partner der Politikberatung Prospectiva. Stolze 25 Parteien sitzen im Abgeordnetenhaus. Pluralität war gewünscht, damals nach dem Ende der Militärdiktatur. "Heute ist es eine permanente Herausforderung, eine Mehrheit zu bilden." Doch wenn Temer es schaffe, zumindest einen Teil der Reformen schnell umzusetzen, habe er eine Chance, glaubt Sennes.

Wie sehr die Zeit drängt, wird an jenem Nachmittag in Monte Mor deutlich. In der Nachbarstadt von Campinas hat Haver und Boecker seinen Sitz. Das Familienunternehmen aus dem Münsterland ist seit mehr als 40 Jahren in Brasilien. Es baut Verlademaschinen für den Bergbau, stellt aber auch Filter und Verpackungen her. Mit Schmirgelpapier in der Hand verleiht ein Mitarbeiter gerade einer Maschine den letzten Feinschliff. Wie eine große, gelbe Krake greift die Maschine Pakete vom Fließband und stapelt sie auf die Palette, die auf dem Nachbarband steht. Wenn die Palette voll ist, fährt das Band weiter.

Die Maschine haben seine Mitarbeiter hier in Monte Mor gebaut, erzählt Lateinamerika-Chef Adrián N. Gamburgo. Haver und Boecker wird sie aber nach Chile exportieren. Denn während die Nachfrage in Brasilien schwächelt, macht die schwache Landeswährung den Export einfacher. So hofft Gamburgo, die Krise zu überstehen.

Für viele Firmen war Brasilien der Anfang ihrer Globalisierung, aber auch eine Herausforderung

Diese schwerste Rezession, die Brasilien seit den Dreißigerjahren erlebt hat, trifft ein Land, in dem für viele deutsche Unternehmen ihre Globalisierungsgeschichte begann. Insgesamt beschäftigten Firmen aus der Bundesrepublik etwa 250 000 Menschen in Brasilien. Das Land war mit seinen komplizierten Gesetzen aber auch stets eine Herausforderung für deutsche Manager. Zuletzt hat das Thyssen-Krupp gespürt. Der Essener Konzern hat sich mit einem Stahlwerk in den Mangrovensümpfen völlig verkalkuliert. Es fährt seit zehn Jahren hohe Verluste ein.

Bei Haver und Boecker hofft Gamburgo, dass es in Brasilien rechtzeitig wieder aufwärts geht. "Noch halten sich die Überkapazitäten im Rahmen", berichtet der Manager. Man habe Aufträge für etwa drei Monate. "Wenn der politische Stillstand jetzt gelöst wird, bleibt alles stabil." Doch wie das nächste Jahr wird, vermag Gamburgo nicht einzuschätzen. "Wir machen uns Sorgen."

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Quelle:
SZ vom 14.05.2016
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