Brasilien:Auch mal locker bleiben

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Auf einheimische Mitarbeiter setzen und Vertrauen haben: Mit dieser Devise ist die Messe Nürnberg unter anderem in Brasilien erfolgreich. Firmen nutzen die Kontakte der Messe gern - auch um die Kultur des Landes zu verstehen.

Von Marcel Grzanna

Was sonst als ein Sektglas sollte João Picolo an diesem Abend in der Hand halten? Es gibt etwas zu feiern. Picolo steht auf der Tanzfläche der Villa Bisutti, einem angesagten Club im Zentrum von São Paulo. Wer hier eintritt, wird von grell geschminkten Männern und Frauen in Vogelkostümen empfangen. Picolo hat ein paar Hundert Leute um sich geschart. Die meisten sind seine Kunden. Auch der Chef aus Deutschland steht neben ihm, aber in seinem Schatten an diesem Abend. Das hier ist Picolos Heimspiel. Er hebt das Glas zum Toast. "Auf die NürnbergMesse, auf die nächsten zehn Jahre!"

Es ist ein runder Geburtstag, den die Anwesenden begehen. Am Abend der Feier im vergangenen Oktober ist die Messe Nürnberg seit einem Jahrzehnt in Brasilien vertreten. In São Paulo, dem industriellen Zentrum des Landes, hat sie ihre Zentrale. Viele deutsche Mittelständler auf dem Kontinent nutzen die Plattform. Das Geschäft entwickelte sich bis zum Corona-Ausbruch bestens.

Einen großen Teil der Lorbeeren verdient João Picolo, charismatisch, fit, Anfang 40, seit 2016 im Unternehmen. Ein paar Dutzend Deutsche sind auch unter den Gästen. Die tragen mit ihren Krawatten nicht gerade zur Polonaise-Stimmung bei. Die meisten Brasilianer mögen es weniger förmlich. Sie benötigen nicht einmal viele Caipirinhas, ehe die ersten beginnen, zu tanzen. Die Deutschen stehen zu diesem Zeitpunkt noch in kleinen Gruppen zusammen und beraten, was zu tun ist.

Eine globale Expansion schafft Stabilität und nützt auch der Heimat

Immerhin ist der schleppende Teil des Abends bereits überstanden: die Begrüßungsrede von Geschäftsführer Roland Fleck. Der Gast aus Deutschland spricht lang und verstrickt sich in Zahlen und Statistiken. Die Menge wird unruhig. Man ist zum Feiern hier, nicht zur Auflistung von Wachstumsparametern. Wenn in Brasilien gefeiert wird, dann lässt man alle Fünfe gerade sein. Fleck tut sich schwer damit. Normalerweise spricht er mit Landespolitikern des Freistaats Bayern oder mit Ratsmitgliedern der Stadt Nürnberg, den beiden Hauptgesellschaftern der Messe. Da schlägt er vermutlich den richtigen Ton an. Fleck war selbst einmal Stadtrat.

Die beiden verantwortlichen Geschäftsführer Fleck und Peter Ottmann, die sich die Unternehmensleitung der Messe Nürnberg teilen, treiben seit Jahren die Expansion konsequent voran. Mit Erfolg: Die Messe ist stark gewachsen. Die Zahl der Aussteller erreichte 2018 ein Rekordhoch, der Jahresumsatz ist seit 2011, als Fleck und Ortmann ihre Posten antraten, um rund 80 Prozent gestiegen. Das Geschäftsjahr 2018 stellte für die Messe nach eigenen Angaben "den Eintritt in eine neue Dimension" dar. Der Umsatz betrug 315,1 Millionen Euro, der Gewinn 28 Millionen. Allerdings ist Messegeschäft ein Zyklengeschäft. Sehr guten Jahren folgen schwächere, weswegen die Zahlen von 2019 nicht Schritt halten konnten und der Umsatz unter 300 Millionen fiel. Kurzfristig hatte das Unternehmen zwar neue Rekordjahre anvisiert. Doch die Corona-Pandemie wird die Verhältnisse auch im Messegeschäft neu ordnen. Gravierende Rückschläge sind für die gesamte Branche programmiert.

São Paulo, ein möglicher künftiger Einsatzort der Flugtaxis, ist derzeit einer der größten Hubschraubermärkte der Welt. (Foto: Mario Tama/Getty Images)

Das Ausland spielt für die Franken eine immer wichtigere Rolle. 2007 wagte das Unternehmen den Schritt über die Landesgrenzen und entschied sich zuallererst für eine Tochtergesellschaft in Shanghai. Heute operiert es in fünf Regionen der Welt mit eigenen Tochtergesellschaften. Zu São Paulo und China gesellen sich Standorte in Nordamerika, Indien, Italien und Griechenland, und in Österreich gibt es nach Zukäufen jetzt auch eine Niederlassung. Das Unternehmen ist in 100 Staaten der Welt aktiv, betreibt 50 Vertretungen in aller Herren Länder. Die Anzahl seiner Messen und Kongresse hat sich auf rund 120 Veranstaltungen pro Jahr erhöht.

Aus einem regionalen Akteur ist nicht nur einer der größten Messebetreiber in Deutschland geworden, auch im internationalen Vergleich spielen die Franken inzwischen ganz vorne mit. Sie gehören zur Top 15 der Welt. "Das Auslandsgeschäft sichert unseren Heimatstandort wirtschaftlich ab. Insgesamt sind wir im Ausland profitabel. Das war nicht immer so", sagt Fleck. "Einem Bäckermeister im Stadtrat zu erklären, warum wir Millionen in Brasilien investieren, ist gar nicht so einfach."

Als öffentlicher Träger hat die Messe Nürnberg die Aufgabe, die fränkischen und bayerischen Unternehmen zum Wohle der Region zu fördern. Sie öffnet den Firmen durch ihre Messen, Tausende Kilometer entfernt, neue Fenster in andere Teile der Erde. Eine globale Expansion kann den Unternehmen mehr Stabilität verschaffen, die dann auch der Heimat zugute kommt. Die Messe gibt deutschen Mittelständlern dabei wertvolle Tipps. Unternehmen aus ganz Deutschland nutzen diese. Der Gabelstapelhersteller Kion aus Frankfurt zum Beispiel: "Die NürnbergMesse ist ein wertvoller Partner für uns. In Brasilien sind die persönlichen Kontakte elementar wichtig für die Qualität der Geschäftsbeziehungen. Diese Plattform bietet uns die Messe", sagt Kions Südamerika-Chef Frank Bender. Mit diesem Auftrag im Hinterkopf operieren die Messebetreiber seit vielen Jahren. Die Führungsetage widersteht dabei dem möglichen Reflex, ihren Töchtern in China, Indien oder eben Brasilien zu enge Grenzen zu setzen und sie durch strikte Vorgaben in ihrem Handlungsspielraum zu behindern. Die Messe Nürnberg vertraut lieber ihren Leuten am jeweiligen Ort, so wie João Picolo und seinem Team. Die Strategie zahlt sich aus.

In Brasilien versteht man die Freiheit keineswegs als Aufforderung für Alleingänge. "Wir befinden uns in einem ständigen Austausch mit der Zentrale in Nürnberg, und wir bekommen von dort sehr viel Unterstützung für unsere Arbeit hier am Ort", sagt Picolo.

Was die Tochter in Brasilien wohl alsbald benötigt, ist mehr Platz. Am Tag vor der Geburtstagsfeier empfängt Picolo eine Delegation von deutschen Journalisten in der Landeszentrale der Messe. 45 Leute arbeiten hier inzwischen. Sechs Abteilungsleiter drängeln sich in einem kleinen Büro mit Glasfassade. "Es wird hier langsam ziemlich eng", sagt Picolo. Der Tross der Gäste läuft im Entenmarsch an Dutzenden Mitarbeitern vorbei. Wie Brasiliens Bevölkerung ist die Belegschaft bunt gemischt. Schwarze sind im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert. Mehr als die Hälfte der Brasilianer sind schwarz. Die leben aber überwiegend im Norden Brasilien, weit weg von der Provinz São Paulo im Süden, dem größten industriellen Zentrum des Landes.

Messen sind für die Wirtschaft essenziell, gerade in Märkten wie Brasilien. Im vergangenen Jahr kamen daher 14 neue Veranstaltungen in Brasilien hinzu. 2018 zählte die Messe Nürnberg in São Paulo knapp 110 000 Besucher, im ersten Jahr waren es nur 64 000. Für Picolo ist es wichtig, nicht um jeden Preis in jeden Markt zu drängen. Wenn die Konkurrenz in einem Feld aktiv werde, könne man leicht in Versuchung geraten, nachzuziehen. Seine Leute hielten ständig Ausschau nach neuen Möglichkeiten, aber sie überstürzten nichts, sagt er.

Neue Veranstaltungen ergeben nur dann Sinn, wenn die Prognosen der Branche entsprechend optimistisch sind, wenn mögliche Kunden nach einer entsprechenden Plattform als Vertriebsvehikel verlangen und wenn die Konkurrenz nicht schon mit einem allzu ähnlichen Konzept aufwartet. Als Messebetreiber wollen die Verantwortlichen passgenau die Bedürfnisse der Kunden bedienen. Um das Matchmaking von Unternehmen zu fördern, gibt es begleitende Kongresse zu den Themen, die eine Messe dominieren.

Roland Fleck und João Picolo. (Foto: N/A)

"Die Messen bieten uns in vielerlei Hinsicht Hilfestellungen, die unserem Geschäft zugute kommen. Wir nutzen sie als Kommunikationsplattform, um unser Image zu schärfen", sagt Eder Ramos, der das Südamerika-Geschäft des ostwestfälischen Duft- und Geschmacksstoffherstellers Symrise leitet. Als Kontaktbörse hilft die Messe Nürnberg den Unternehmen dabei, ihre Partner am Ort besser kennenzulernen. Davon können vor allem auch deutsche Exporteure profitieren, die ein Finanzierungsrisiko tragen, wenn sie nach Südamerika liefern. Die Messe bietet ein Forum, die Integrität und Bonität künftiger Partner besser bewerten zu können.

Mit der deutschen Außenhandelskammer in São Paulo organisieren die Franken zudem Gemeinschaftsstände für deutsche Unternehmen. Die Handelskammer steht den Firmen beratend zur Seite und informiert bei der Finanzierung über Optionen wie Hermes-Bürgschaften oder Bankkredite der KfW. Die Corona-Krise nutzt die Messe Nürnberg dazu, um ihre Kunden auch digital besser miteinander zu vernetzen. Um sich mit Experten der entsprechenden Industrien auszutauschen, gibt es wöchentlich fachbezogene Webinare auf Youtube in Portugiesisch.

Neu ins Programm der Brasilien-Franken hat es zuletzt die "Veículo Eléctrico Latino-Americano" (E-Mob) geschafft, die 2018 erstmals von der Messe organisiert wurde. Sie ist die größte ihrer Art auf dem gesamten mittel- und südamerikanischen Kontinent. Es ist nicht der einzige Trend. "Digitalisierung ist ein heißes Thema", sagt Picolo, "aber wir gehen erst in den Markt, wenn wir eine Gelegenheit sehen, wo wir eine klare Perspektive erkennen", sagt er. Haustiere beispielsweise: Brasilianer investieren schon vier Milliarden Euro pro Jahr für ihre Vierbeiner, Vögel oder Reptilien, die sie in den eigenen vier Wänden halten. Auch Kosmetik ist zunehmend gefragt: ein 2,1-Milliarden-Euro-Markt.

"Im Messegeschäft ist Kommunikation das A und O", sagt Thomas Koch. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung. Koch sitzt in einem Reisebus, den die Messe gemietet hat, um den angereisten Journalisten deutsche Unternehmen vorzustellen, die im Speckgürtel des Millionenmolochs Standorte betreiben. Zwei grimmig blickende Personenschützer sind mit an Bord. "War mir auch nicht klar, dass wir die hier benötigen. Aber unsere Leute haben gesagt, es sei einfach sicherer", sagt Koch. Taxifahrer behaupten zwar, São Paulo sei sicher, aber als Referenz für ihr Urteil ziehen sie die Küstenmetropole Rio de Janeiro heran, ein deutlich kriminellerer Ort als die meisten anderen Städte in Südamerika. Die Polizei setzte dort im vergangenen Jahr sogar Scharfschützen ein, um Bandenmitglieder in den Favelas zu liquidieren.

In einem solchen Umfeld ist es gut, sich auf das Urteil der Einheimischen zu verlassen. Umso wichtiger ist es für die Messe, dass der Nachrichtenfluss zwischen São Paulo und der Zentrale im Bedarfsfall durch Mitarbeiter mit entsprechenden Kenntnissen der lokalen Sprache und Kultur unterstützt wird. So wie Friedel Nimax, verantwortlich für die Organisationsstruktur. Nimax ist Deutscher, mit einer Brasilianerin verheiratet und spricht fließend Portugiesisch. Er hat das Land von ganz unten her kennengelernt. Ein Jahr lang arbeitete er für eine Nichtregierungsorganisation als Sozialarbeiter in verschiedenen Favelas der Stadt. Er versteht die Sorgen und Nöte der Einheimischen.

Welche Spuren die Corona-Krise in São Paulo hinterlässt, weiß derzeit niemand

Oder Eike Scholl, Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen, der in der Vergangenheit mehrere Jahre in chinesischen Millionenstädten lebte und arbeitete. Als junger Mann konnte er Menschen und Gewohnheiten in Ostasien aus nächster Nähe inspizieren. Solche Erfahrungen allein machen noch keinen guten Manager, aber sie verschaffen eine alternative Sicht auf die Dinge. Es hilft den deutschen, Ruhe zu bewahren, wenn Messehallen in China oder Indien erst auf den letzten Drücker für das Ereignis präpariert werden.

Welche Spuren die Corona-Pandemie am Standort São Paulo hinterlässt, bleibt bislang noch Spekulation. Doch die Messe betont, dass sie an ihrem Engagement festhalten will. "Wir sind davon überzeugt, dass das krisenerprobte Brasilien auch diese Herausforderung gut meistern und den zuletzt eingeschlagenen Wachstumspfad wieder betreten wird. Der Bedarf an hoch spezialisierten Messen und Foren wird auch in Brasilien zunehmen", heißt es aus der Nürnberger Zentrale.

Der Partyabend in der Villa Bisutti in São Paulo wird ein voller Erfolg. Mit seinem Sektglas geht Brasilien-Standortleiter João Picolo durch die Reihen. Aber vielleicht macht ihn die Euphorie des Moments eine Spur zu optimistisch. Er versucht, die deutsche Krawattenkolonie auf die Tanzfläche zu dirigieren. Er scheitert.

© SZ vom 29.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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