Börsenpsychologe zum Dax:Überschätzte 10 000 Punkte

Der Dax hat erstmals die Marke von 10 000 Punkten überschritten. Viele fragen sich: einsteigen oder aussteigen? Der Börsenexperte Joachim Goldberg erklärt, was jetzt zu erwarten ist.

Von Andreas Glas

Zu Joachim Goldbergs Kindheitserinnerungen gehört der Augenblick, als die Tachoanzeige im Auto seiner Eltern von 9999 auf 10 000 Kilometer gesprungen ist. "Das hatte etwas Faszinierendes", sagt Goldberg, er hatte dem Ereignis tagelang entgegengefiebert. Heute ist Joachim Goldberg 58 Jahre alt und gilt als anerkannter Börsenpsychologe. Gerade ist die 10 000er-Marke wieder aktuell geworden. Nicht auf dem Kilometerzähler seines Autos, sondern auf der Anzeigetafel im Handelssaal der Frankfurter Börse. Doch Goldberg fiebert nicht mehr, von einer Faszination für die Dax-Rekordmarke ist bei ihm nichts zu merken: "Diese runden Marken werden überschätzt."

Er hat ja recht. Die Zahl 10 000 ist eine Zahl wie jede andere. Sie sticht nur deswegen hervor, weil die Menschen eine Schwäche für runde Zahlen haben. Und trotzdem: Wenn die Börsenreporter über die Fernsehbildschirme flimmern, um über die Dax-Entwicklung zu berichten, ist stets die Rede von einer "psychologisch wichtigen Marke". Aber warum eigentlich? "Weil die einen sagen: Jetzt muss ich dabei sein. Und die anderen sagen: Ich will raus und meine Gewinne mitnehmen. Solche Marken haben einen Ankereffekt, sie wecken die Menschen auf", sagt Goldberg. Genauso wie es Menschen gibt, die einem Kaufrausch verfallen, wenn im Supermarkt etwas 1,99 Euro kostet, das sie tags zuvor für zwei Euro noch hatten liegen lassen. Mit Vernunft hat das nichts zu tun, mit Psychologie dagegen sehr viel.

Weil Anleger ihre Stopps und Limits gerne auf runden Marken platzieren, wird das Erreichen der 10 000er-Marke kurzzeitig für Aktivität am Markt sorgen. Ansonsten erwartet Goldberg aber keine besonderen Vorkommnisse: "Früher wurde bei jeder runden Marke eine Torte in die Börse gefahren. Ich bin mir nicht sicher, ob das bei 10 000 wieder passieren wird."

Kein Engagement aus Überzeugung, sondern aus der Not heraus

Dass trotz des Dax-Rekords kaum jemand in Feierlaune ist, hat einen Grund: Die Anleger wissen, dass viel Geld nur deshalb in die Aktienmärkte fließt, weil die Notenbanken ihre Zinsen niedrig halten. Sie pumpen zudem Liquidität in den Markt, geben billiges Geld an die Geschäftsbanken, doch ein Großteil dieser Mittel wird von den Instituten gehortet oder eben in Aktien, Immobilien und auch Staatsanleihen investiert. Die überschüssige Liquidität treibt so die Kurse weiter nach oben.

Wer sich aktuell am Aktienmarkt engagiert, macht das "nicht mit der Überzeugung, dass wir boomende Unternehmenszahlen haben und eine ganz tolle Wirtschaftslage, sondern vor allem aus der Not heraus, dass man bei kurzfristigen Anlagen kaum Zinsen bekommt", erläutert Goldberg. Und: "Es gibt die Befürchtung, dass die Hausse künstlich aufgeblasen ist und zu Ende geht, sobald die Zinsen wieder steigen." Zur Jahrtausendwende war das anders, jede runde Marke war den Börsianern eine Torte wert. Als der Dax binnen dreieinhalb Monaten die 6000-, 7000- und 8000-Punkte-Marke knackte und der Dow Jones seinem Allzeithoch entgegentrieb, war ganz Deutschland im Aktienfieber - die Börse war Gesprächsthema in den Büros und auf Partys gleichermaßen. Taxifahrer, Putzfrauen, selbst Studenten kauften Aktien, Dax-Papiere, aber auch solche von Unternehmen, die an Wachstumsbörsen wie dem Neuen Markt gehandelt wurden und deren Namen sie kaum aussprechen konnten.

8000 Punkte - kurz danach platzte die Internetblase

Abgesehen von der Torte ist zwar auch damals nichts Dramatisches passiert, als die Rekordmarke auf der Dax-Anzeigentafel aufleuchtete, trotzdem war die Freude der Anleger groß - "weil die 8000 Punkte eine zusätzliche Bestätigung waren, dass sie alles richtig gemacht haben", sagt Goldberg. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Im März 2000 platzte die Internetblase, die Börsenrally ging jäh zu Ende, und Anleger, die eben noch euphorisch waren, verloren binnen kurzer Zeit eine Menge Geld. Auch im Zuge der jüngsten Finanzkrise brach der Dax mehrfach ein - erstmals im Herbst 2007, kurz nachdem der Index die 8000 Punkte geknackt hatte, dann noch stärker Ende 2008, nachdem klar war, dass die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers nur die Spitze des Eisbergs war - und der Anfang einer viel größeren Schuldenkrise der westlichen Welt. Den Rekordmarken folgte also jeweils ein heftiger Kurssturz.

Mystifizierung von Zahlenschwellen

Dass sich ein solches Crash-Szenario an der 10 000er-Marke wiederholt, ist eher unwahrscheinlich, meinen Börsenbeobachter. Aus ihrer Sicht gibt es keine fundamentalen Gemeinsamkeiten zwischen den Rekordjahren 2000, 2007 und 2014. Doch an der Neigung des Menschen, gewisse Zahlenschwellen zu mystifizieren, werden auch die Profiprognosen nichts ändern. Wer zur Jahrtausendwende an einen globalen Datencrash geglaubt hat, weil die Computer mit den vielen Nullen hätten überfordert sein können, der glaubt vermutlich jetzt an einen Börsencrash, wenn der Dax plötzlich fünfstellig notiert.

Börsenpsychologe Goldberg bleibt gelassen, die Tacho-Erfahrung hat ihn früh eines Besseren belehrt. Zudem sei die Stimmung an den Märkten für dramatische Kursveränderungen "zu zurückhaltend, der bedingungslose Optimismus fehlt. Daran wird auch ein Dax von 10 000 nichts ändern".

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