Christian Kahler erlebt in diesen Monaten eine Zeitenwende. Er hat die Veränderung auf seinen drei PC-Bildschirmen beobachtet, hoch oben im 23. Stock des weißen Frankfurter Hochhauses, dem Sitz der DZ-Bank, dem Zentralinstitut der deutschen Genossenschaftsbanken. Kahler, sanfte Stimme, kurze Haare und heute Chef-Anlagestratege des Instituts, ist seit 17 Jahren im Finanzgeschäft. Er sah, wie nach der Jahrtausendwende die Blase bei Technologie-Aktien platzte. Er beobachtete, wie die Finanzkrise von den USA aus den Globus infizierte. Jetzt bemerkt Kahler, wie eine Ausnahme zur Regel wird. Sie lautet: Immer häufiger verlieren Aktien binnen eines Tages gut 20 Prozent an Wert. Betroffen sind etwa der Energieversorger RWE, der Kaliproduzent K+S und der Autobauer Volkswagen. 20 Prozent Verlust können in solchen Fällen einem Börsenwert von mehreren Milliarden Euro entsprechen. Aufgebaut über viele Jahre - vernichtet an einem Tag.
Was Banker Christian Kahler meint, nennen Experten Volatilität. Gemeint sind die Schwankungen der Aktienkurse, das ewige Auf und Ab der Börse. Das Thema ist relevant für Millionen Deutsche, die in Misch- und Rentenfonds investiert haben. "Je stärker die Kurse schwanken, desto stärker müssen sich die Manager dieser Fonds gegen mögliche Verluste absichern", sagt Kahler. Desto mehr müssen die Fondsmanager zahlen, um sich dagegen abzusichern. Und desto weniger Ertrag bleibt für die Kunden.
Seit Mitte der Neunzigerjahre sind die Schwankungen stärker geworden, sagt der Bamberger Finanzprofessor Andreas Oehler. Er und sein Team haben berechnet, wie volatil der Dax zwischen 1991 und heute war, der wichtigste deutsche Aktienindex. Das Ergebnis: Vor 1996 lagen in der Regel zwischen dem Tageshöchst- und dem Tiefststand rund drei Prozent Unterschied. Heute sind es gut fünf Prozent, der Wert ist also fast doppelt so hoch. "Zudem häufen sich die heftigen Kursausschläge", sagt Oehler. Das zeigt etwa der V-Dax-New-Index, der näherungsweise die Schwankungen des Dax wiedergibt. Sein Verlauf hat in den vergangenen Jahren viel mehr Kurs-Zacken bekommen als noch zu Beginn der Neunzigerjahre. Die zunehmende Volatilität hat viele Gründe. Ein Überblick.
Politische Unruhe
Die Probleme Griechenlands und der Euro-Zone, der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die Kriege in Syrien und der Ukraine, die Schwierigkeiten von Schwellenländern wie China - die Welt ist im Krisenmodus. Zum einen führen politische Ereignisse selbst zu großen Kursstürzen. Nach dem Anti-EU-Votum der Briten etwa fiel der Dax um bis zu zehn Prozent. "Zum anderen kann die Unsicherheit dazu führen, dass Anleger grundsätzlich nervöser reagieren", sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank. Aus kleineren Kurseinbrüchen können so schnell Kursstürze werden - und die Börsen zu Chiffren der politischen Unruhe.
Notenbank-Nervosität
Seit Jahren versucht die Europäische Zentralbank (EZB), die Inflationsrate wieder auf den angepeilten Wert von knapp unter zwei Prozent zu hieven. Die EZB hat etwa den Leitzins auf null Prozent gesenkt, damit die Banken mehr Kredite vergeben und so die Inflation steigt. Das Problem ist nur: Viele Unternehmen und Privatleute in der Euro-Zone wollen keine neuen Kredite aufnehmen. Das viele EZB-Geld ist aber trotzdem da. Investoren nutzen es stattdessen, um etwa Aktien zu kaufen. Das führt nicht zwingend zu einer Blase, also zu übertrieben hohen Kursen. Noch halten Experten die Notierungen in vielen Fällen für angemessen, aber sie sind trotzdem ein Stück höher, als sie es ohne das Notenbank-Geld wären. Der Haken daran: "Das macht die Investoren zusätzlich nervös", sagt Hartwig Webersinke, Ökonomieprofessor an der Hochschule Aschaffenburg. Je höher die Kurse wegen des EZB-Geldes steigen, desto tiefer können sie später fallen. Aus Angst vor diesen größeren Verlusten verkaufen Anleger sofort viele Aktien, wenn die Kurse nur ein wenig einbrechen. So können sie einen umfassenden Kurssturz auslösen.
Die Algorithmen sind los
Der Handel über Computersysteme hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Fachleute sprechen vom Algotrading. Börsenhändler entscheiden dabei nicht mehr selber, wann sie kaufen oder verkaufen. Sie programmieren nur noch Algorithmen, die wissen, bei welchem Ereignis sie welche Aktien erwerben oder abstoßen sollen - und führen ihre Befehle in Sekundenbruchteilen aus. "Es fehlt der Mensch als Korrektiv, der eine Entscheidung noch mal eine Minute lang überdenken kann", sagt Finanzprofessor Oehler. Welche Folgen das haben kann, zeigte sich bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Die Programmierer hatten sämtliche Algorithmen darauf abgerichtet, dass der Sieg des Republikaners Gift für die US-Wirtschaft sei, vermutet Oehler. Deswegen fielen die Kurse erst einmal, als sich Trumps Triumph abzeichnete. Doch viele in der Finanzbranche änderten kurz darauf ihre Meinung. Sie sahen in dem neuen Präsidenten plötzlich einen Hoffnungsträger - aber die Computer hatten ihr Werk bereits begonnen. Es dauerte eine Weile, bis die Algorithmen umprogrammiert waren, und sie wieder begannen, Aktien zu kaufen. "Das geschah noch rechtzeitig. Weiter fallende Kurse hätten schnell eine tiefer gehende Panik auslösen können", sagt Oehler.
Ein Risiko namens Risikopuffer
In den vergangenen Jahren haben viele Fonds sogenannte Risikopuffer eingeführt. Verliert ein Fonds beispielsweise fünf Prozent an Wert, weil die Aktienkurse fallen, muss der Fondsmanager Aktien verkaufen, um die Verluste zu begrenzen. Dadurch entsteht eine Abwärtsspirale: "In fallende Kurse hinein verkaufen die Fonds Aktien. Die Kurse fallen dadurch noch weiter", sagt der DZ-Bank-Mann Christian Kahler.
Gefahr Donald Trump
EZB-Vertreter äußern sich traditionell sehr zurückhaltend, Ende November dagegen wurden die Notenbanker in ihrem Finanzstabilitätsbericht deutlich - und warnten vor dem designierten US-Präsidenten Donald Trump und seinem Plan, die Vereinigten Staaten vom Welthandel abzukoppeln. "Die Folgen für die Finanzstabilität der Euro-Zone sind höchst ungewiss", schrieben die EZB-Leute. Die Börsenschwankungen, sie werden vielleicht noch stärker werden.