In den letzten Tagen war der eigentlich freundliche neue Boeing-Chef Kelly Ortberg hinter den Kulissen sehr deutlich geworden. Wenn die Gewerkschaft der Mechaniker das neueste Angebot des Unternehmens wieder nicht annehmen würde, dann werde Boeing diesem kein besseres, sondern ein schlechteres folgen lassen. Das teilte er dem Verhandlungsführer Jon Holden persönlich mit – und stellte damit die Weichen für eine mögliche weitere Eskalation, die allen Seiten nur geschadet hätte.
So weit ist es nun nicht gekommen. Holden, Chef der Sektion 751 der International Association of Machinists and Aerospace Workers (IAM), empfahl den Mitgliedern, das Boeing-Angebot anders als beim letzten Mal anzunehmen. Zuletzt hatten noch 64 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder gegen ein Tarifangebot gestimmt, das ihnen über vier Jahre Gehaltserhöhungen von 35 Prozent garantiert hätte. 59 Prozent stimmten jetzt für den neuesten Vorschlag, der 38 Prozent mehr Geld vorsieht, sowie höhere Einmalzahlungen und Beiträge zur Krankenversicherung. Nicht durchgesetzt hat die IAM eine neue Betriebsrente, die ein großer Teil der Mitglieder unbedingt haben wollte. Die alte hatte Boeing 2012 abgeschafft.
Für Boeing beginnt nun der äußerst mühsame Wiederaufbau nach einem Katastrophenjahr. Nachdem sich am 5. Januar ein Rumpfteil während des Fluges einer Alaska Airlines 737-8 gelöst hatte, waren die haarsträubenden Qualitätsprobleme in der Fertigung des Flugzeugherstellers mehr als deutlich geworden. Die amerikanische Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) führte Zwangsaudits ein und deckelte die Produktion bei 38 Maschinen pro Monat, ein Niveau, das das Unternehmen aber sowieso nicht erreichte. Boeing musste der FAA binnen 90 Tagen einen Plan vorlegen, wie Qualität und Sicherheit in der Produktion sichergestellt werden können. Wenige Wochen danach kündigte der damalige Boeing-Chef David Calhoun seinen Rücktritt an.
Dass Boeing seine monatliche Produktionsrate einhalten kann, ist zweifelhaft
Der mehr als 50-tägige Streik hat eine schwierige Situation in der Produktion, in der jetzt neue Prozesse eingeführt werden sollen, noch komplizierter gemacht. Analysten verweisen auf frühere Streiks, bei denen es bis zu ein Jahr gedauert hat, um die Folgen eines einmonatigen Produktionsstopps auszubügeln. Der Streik traf dieses Mal aber ein sowieso schon schwer angeschlagenes Unternehmen, vor allem aber eine äußerst verletzliche Lieferkette, in der einige wichtige Firmen kurz vor dem Kollaps stehen und nun versuchen müssen, einen möglichst schnellen Hochlauf zu finanzieren. Ortberg hat bereits vor Wochen gewarnt, dass Boeing beim Wiederhochlauf Probleme mit einigen Lieferanten haben werde, die für Verzögerungen sorgen dürften.
Lieferant Spirit AeroSystems, der den Rumpf der 737 baut, ist finanziell in einem äußerst kritischen Zustand, für Boeing aber unverzichtbar. Boeing hat angekündigt, große Teile von Spirit zu übernehmen, Airbus sah sich gezwungen, Werke zu kaufen, die Komponenten für die A220 und A350 bauen. Die Aufspaltung läuft und soll 2025 abgeschlossen sein, unter äußerst schwierigen Bedingungen.
Offiziell strebt Boeing weiterhin eine monatliche Produktionsrate von 38 Maschinen für Ende 2025 an. Doch kaum ein Analyst glaubt, dass dies in der Kürze der Zeit gelingen kann. Zum Vergleich: Airbus liegt derzeit bei etwa 44 Maschinen der konkurrierenden A320neo-Baureihe pro Monat und will bis 2027 auf 75 ausbauen. Für Boeing könnte 2026 das erste normale Jahr seit 2019 werden, als der Hersteller den Bau des Flugzeuges nach zwei Abstürzen von Maschinen der Lion Air und Ethiopian Airlines zeitweise aussetzte.