Als Kelly Ortberg 2021 als Vorstandschef des großen Luftfahrtzulieferers Collins Aerospace aufhörte, war das Bedauern groß. Die Branche steckte während der Corona-Pandemie mitten in einer Krise. Ortberg, damals gerade 60 Jahre alt, galt als einer, der sowohl das Geschäft (und seine größten Kunden Boeing und Airbus) verstand als auch seine Mitarbeiter. Mehr als Symbol gedacht gab er einmal den für ihn reservierten Parkplatz vor dem Collins-Büro auf und parkte sein Auto fortan wie alle anderen dort, wo gerade frei war. Sein Ansatz des „balanced capitalism“, bei dem die Mitarbeiter nicht zu kurz kommen, war in Corporate America dieser Zeit zugleich ungewöhnlich und erfolgreich.
Es sind Reminiszenzen wie die Parkplatz-Anekdote und der Erfolg von Collins Aerospace (heute Teil des Technologiekonzerns RTX), die kaum zu erfüllende Erwartungen an Ortberg geweckt haben, seit der Flugzeugbauer Boeing ihn zum neuen Vorstandschef ernannt hat. Der Luftfahrt-Berater Richard Aboulafia etwa sagt, die Ankündigung sei für Boeing und die Branche „die beste Nachricht seit vielen Jahren“ gewesen. Der heute 64-jährige Ortberg steht vor der Aufgabe, in den kommenden Jahren den schwer angeschlagenen Konzern zu stabilisieren und seinen Nachfolgern eine Basis für die Zukunft zu schaffen. Er hat dabei vier Großbaustellen: die Mitarbeiter, Mängel in der Produktion, die Verspätungen in wichtigen Programmen und die langfristig wichtigste Frage, wie Boeing die Kurz- und Mittelstreckenmaschine 737 Max ersetzt.
Die Mitarbeiter
An seinem ersten Arbeitstag hat sich Kelly Ortberg durch die Fertigungshallen in Renton bei Seattle im Bundesstaat Washington führen lassen. Er hat außerdem klargemacht, dass er selbst von Seattle aus arbeiten werde, Heimat von Boeings Zivilflugzeugsparte. Der Konzern selbst hat seine Zentrale gerade erst von Chicago in die Hauptstadt Washington D.C. verlegt, weit weg von den Produktionsstätten. Ortberg hat damit das Signal gesendet, dass er wieder näher an den Mitarbeitern und an der Produktion dran sein will.
Das ist auch dringend nötig, denn höchste Priorität haben in den kommenden Wochen neue Tarifverträge mit den Mechanikern und Ingenieuren in der Region Seattle. Der aktuelle Tarifvertrag für die Mechaniker, die die Flugzeuge in den Werken zusammenbauen, läuft seit 16 Jahren. Die Gewerkschaft International Association of Machinists (IAM) kritisiert, dass ihre Mitglieder in den ganzen Jahren nur minimale Gehaltssteigerungen bekommen hätten und Boeing die IAM bei mehreren Gelegenheiten geradezu erpresst habe. 2013 etwa habe Boeing das neue Langstreckenflugzeug 777X nur wieder an den Traditionsstandort Everett vergeben, nachdem die Mitarbeiter große Abstriche bei den Zahlungen für den Ruhestand gemacht hätten. Entsprechend groß ist die Wut: Zehntausende Boeing-Mitarbeiter versammelten sich Mitte Juli für eine Urabstimmung im Baseball-Stadion der Seattle Mariners. Mehr als 99 Prozent stimmten dabei für einen Streik – und der ist vom 12. September an möglich.
Die IAM hat klare Vorstellungen: Sie will Gehaltssteigerungen von 40 Prozent über die kommenden drei Jahre, Garantien, dass das nächste neue Zivilflugzeug (mutmaßlich der 737-Nachfolger) in der Region Seattle gebaut wird und einen Sitz im Verwaltungsrat. 2013 fühlte sich die Gewerkschaft erpressbar, weil Boeing längst andere Standorte für die 777X sondierte, jetzt aber hat das Unternehmen die schlechteren Karten: Nichts kann sich Boeing weniger leisten, als weiter verspätete Auslieferungen an die Kunden. Ortberg muss also alles daran setzen, in den kommende vier Wochen einen für beide Seiten guten Deal auf die Beine zu stellen. Dass er verstanden hat, wie wichtig die Sache ist, zeigte er in dieser Woche. Er traf sich als erster Boeing-Chef seit Jahrzehnten mit der Gewerkschaftsführung und griff damit direkt in die Verhandlungen ein.
Die Produktion
Der Unfall der 737 Max der Alaska Airlines am 5. Januar 2024, bei dem eine Türfüllung kurz nach dem Start wegflog und nur mit viel Glück keiner an Bord ernsthaft zu Schaden kam, hat eklatante, weitreichende Mängel in der 737-Produktion offenbart. Das Programm und mit ihm Boeing war seit den beiden Max-Abstürzen 2018 und 2019 im Krisenmodus. Die Unfälle, bei denen 346 Menschen ums Leben gekommen sind, waren auf eine schlampig entwickelte und übergriffige neue Flugsteuerungssoftware zurückzuführen, dieses Mal geht es um die Produktion selbst und damit um die Arbeitsroutinen von Zehntausenden Mitarbeitern.
Boeing hat damit begonnenen, die Produktion in Renton besser zu organisieren. So dürfen die halb fertigen Rümpfe künftig nur noch dann von einer Arbeitsstation zur nächsten gehoben werden, wenn einige Mindestbedingungen erfüllt sind. Bislang rollten routinemäßig fertig gebaute 737 mit langen Listen an Mängeln aus der Halle, die am Ende nachbearbeitet werden mussten. Boeing nimmt die vom Zulieferer Spirit Aerosystems gebauten Rümpfe auch nur noch an, wenn die Zahl der Baumängel beherrschbar ist, und hat zuletzt beschlossen, das Spirit-Werk in Wichita zu kaufen. Dennoch: Dass Schlampereien, die am Ende lebensgefährlich sein können, lange Zeit gang und gäbe waren, ist ein kulturelles Problem, das nicht von heute auf morgen verschwindet.
Die Kunden drängen. Eigentlich wollte Boeing längst 38 Flugzeuge des Modells 737 Max pro Monat bauen, doch hat das Unternehmen die Rate stark reduziert, um Änderungen in der Produktion einzuführen. Im Juli hat Boeing 31 Maschinen ausgeliefert, deutlich mehr als in den Monaten zuvor, 38 sollen es aber erst Ende des Jahres sein.
Die Zivilsparte hat die größten offensichtlichen Qualitätsprobleme, doch auch in den anderen Geschäftsbereichen läuft es nicht rund. Das Tankerprogramm für die amerikanische Luftwaffe sorgt praktisch jedes Quartal für neue Abschreibungen. In der Raumfahrt macht der Starliner Ärger. Zwei amerikanische Astronauten, die der Starliner zur internationalen Raumstation ISS gebracht hat, müssen wegen Fehlern im Antriebssystem nun womöglich von einem Raumtransporter des Konkurrenten Space-X zurückgeflogen werden. Statt einer Woche bleiben die beiden nun ungeplant wahrscheinlich acht Monate an Bord der ISS.
Die Zulassung
Zwei Versionen der 737-Max-Baureihe, die 737-7 und 737-10, sind immer noch nicht zugelassen. Einer der wichtigsten Kunden, United Airlines, hat die Flugzeuge mittlerweile trotz Festbestellung sogar aus seiner mittelfristigen Flottenplanung herausgenommen. Die 777X, die auch in dem Konflikt zwischen Boeing und der Gewerkschaft IAM eine Rolle spielt, ist mittlerweile fünf Jahre verspätet, für die Erstkunden wie Lufthansa und Emirates Airline ein riesiges Problem. Lufthansa sah sich gezwungen, ältere und unwirtschaftliche Maschinen wie die 747-400 oder den Airbus A340 viel länger zu betreiben als geplant. Boeing hat den Kunden versprochen, dass die erste 777X nun 2025 ausgeliefert wird, doch die Airlines haben immer noch erhebliche Zweifel daran, dass dies klappt. Laut Lufthansa-Chef Carsten Spohr drohen Boeing drakonische Vertragsstrafen, sollte das erste Flugzeug erst 2026 oder später zur Verfügung stehen. Wichtig in diesem Zusammenhang: Ortberg muss das wegen der Max-Abstürze und dem Alaska-Vorfall nachhaltig gestörte Vertrauen der Zulassungsbehörden, insbesondere der amerikanischen Federal Aviation Administration (FAA), zurückgewinnen. Immerhin: die FAA hat Ende Juli die für die Zertifizierung nötigen Flugtests der 777X genehmigt.
Die Strategie
Der bisherige Boeing-Chef David Calhoun hat das Thema Produktstrategie so fern von sich gehalten wie irgendwie möglich. Das sei eine Frage, die sein Nachfolger beantworten werden müsse, sagte Calhoun noch bevor er wusste, dass er selbst bald abgelöst wird. Dabei drängt sie jeden Tag mehr. Gemessen an den aktuellen Aufträgen kommt Airbus bei den Volumenmodellen der A320neo-Reihe, die mit der 737 Max direkt konkurriert, mittlerweile auf einen Marktanteil von rund 60 Prozent, Tendenz weiter steigend. Unter Calhoun hat Boeing bislang argumentiert, die Technologie sei noch nicht reif für ein neues Programm, es fehle etwa an geeinigten Triebwerken – für viele Beobachter eine Schutzbehauptung. Ortberg hat sich bisher nicht zu dem Thema geäußert, er ist ja auch erst seit einer guten Woche auf seinem neuen Posten. Aber die Branche wartet gespannt darauf, wie er sich und Boeing in dieser Hinsicht positioniert. Schon jetzt ist angesichts der langen Entwicklungszyklen in der Luftfahrt klar, dass Boeing eine neue Maschine erst in der zweiten Hälfte und wahrscheinlich sogar eher gegen Ende der 2030er-Jahre wird ausliefern können. Bis dahin wird der Konzern versuchen müssen, sich mit der 737 Max über die Zeit zu retten.