Ein paar Tage nachdem Kelly Ortberg im August seinen neuen Job als Vorstandschef des amerikanischen Luftfahrtkonzerns Boeing angetreten hatte, ließ er sich bei Jon Holden blicken. Er wurde damit zum ersten Boeing-Chef seit Jahrzehnten, der sich dazu herabließ, den lokalen Leiter der International Association of Machinists (IAM) zu treffen, der wichtigsten Gewerkschaft des Konzerns. Aber es ging ja auch um alles: Die IAM und deren Mitglieder haben die Macht, die Produktion bei Boeing von diesem Freitag an lahmzulegen – und natürlich ist ein womöglich sogar langer Streik das Allerletzte, was der Konzern gerade jetzt gebrauchen kann.
Ortbergs Besuch und ein Monat Quasi-Nonstop-Verhandlungen in einem Hotel in Seattle haben nun offenbar zu einem wichtigen Etappenziel geführt: Die IAM hat sich vorläufig mit Boeing auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Über diesen müssen die Mitglieder bis Mitternacht am Donnerstag abstimmen und dabei entscheiden, ob die Gewerkschaftsführung ihrer Ansicht nach dem Konzern zu sehr entgegengekommen ist oder ob die Konzessionen ihres Arbeitgebers ausreichen, das Vertragswerk anzunehmen.
Die Einigung sieht vor, dass die Flugzeugmechaniker über vier Jahre 25 Prozent mehr Geld bekommen, elf Prozent davon sofort sowie eine Bonuszahlung von 3000 US-Dollar Ende September. Wenn man die regulären Steigerungen, die sich an der Länge der Betriebszugehörigkeit bemessen, berücksichtigt, bekommen die Mitarbeiter im Durchschnitt 33 Prozent mehr Geld. Darüber hinaus gibt es viele weitere Klauseln, unter anderem einen höheren Beitrag zur Sozialversicherung, jedoch nicht die geforderte Rückkehr zu einer fixen Betriebsrente.
Die Zahlen klingen sehr hoch, aber der bisher letzte wirklich neue Tarifvertrag ist auch bereits 16 Jahre alt. Die IAM hatte sogar 40 Prozent mehr Geld für alle gefordert. Damals und bei zwei weiteren Zwischentarifrunden fühlte sich die Gewerkschaft erpresst, weil Boeing gedroht hatte, Schlüsselprojekte wie das Langstreckenflugzeug 777X oder die 737 Max aus der Puget-Sound-Region (Seattle und Umland) an kostengünstigere Standorten zu verlagern. Dass es sich dabei eher nicht um eine leere Drohung handelte, mussten die Mechaniker im 787-Programm erleben – das ist mittlerweile komplett nach Charleston, South Carolina, umgezogen. Entsprechend gering waren die Gehaltszuwächse über die vergangenen eineinhalb Jahrzehnte für diejenigen, die in der Region Seattle weitergearbeitet haben.
Wie sehr sich nun aber die Lage gedreht hat und unter welchem Druck Boeing gerade steht, zeigt sich aber nicht so sehr an den absoluten Zahlen, sondern an einem Zugeständnis, dessen Bedeutung langfristig gar nicht hoch genug einzuschätzen ist: Boeing verpflichtet sich dazu, das nächste neue Flugzeugprogramm am Puget Sound zu bauen. „Boeings Wurzeln sind hier“, sagte Boeing-Commercial-Chefin Stephanie Pope.
Die Zusage sichert Zehntausende Jobs in Seattle
Das nächste Programm dürfte der Nachfolger für die 737 Max-Serie werden. Noch ist unklar, wann das Projekt gestartet wird. Aber die meisten Kunden drängen Boeing hinter den Kulissen dazu, so schnell wie möglich zu handeln, um nicht noch weitere Marktanteile an den europäischen Rivalen Airbus zu verlieren. Daran haben weder Fluggesellschaften noch Leasingunternehmen Interesse, denn sie können die beiden Hersteller bei Kaufverhandlungen nicht mehr so gut gegeneinander ausspielen. Derzeit beherrscht Airbus den Markt für Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge mit etwa zwei Dritteln der ausstehenden Aufträge. Boeing hat das Projekt für die zweite Hälfte der 2030er-Jahre vorgesehen – ein neues Flugzeug zu entwickeln, dauert locker acht bis zehn Jahre.
Die Zusage ist für die Gewerkschaft nicht nur deswegen wichtig, weil sie auf Jahrzehnte hinaus Zehntausende Arbeitsplätze in der Region sichert. Sie verhindert auch, dass Boeing in künftigen Verhandlungen wieder mit Abzug drohen könnte, und stärkt damit die Position der IAM nachhaltig.
Sollte Ortberg also mit seinem ersten großen Projekt durchkommen und der Tarifvertrag mit der IAM auch die Urabstimmung überleben, so hätte dieser Erfolg aus Sicht des Unternehmens einen hohen Preis. Die Personalkosten werden steigen, und Boeing muss versuchen, die Flugzeuge teurer zu verkaufen. Das würde unter anderem Airbus helfen. Boeing braucht allerdings unbedingt Stabilität und möglichst schnell Wachstum in der Produktion – nach den Pannen, die zu dem peinlichen, aber letztlich glimpflich verlaufenen Unfall bei Alaska Airlines im Januar geführt hatten.
Die Frage aber ist, ob die Mechaniker überhaupt zustimmen. In Online-Foren schimpfen viele und fordern trotz allem Streiks. Boeing muss hoffen, dass die schweigende Mehrheit dies anders sieht und den Vertrag billigt.