Der amerikanische Luftfahrtkonzern Boeing beschließt nach jahrelanger Krise nun einschneidende Konsequenzen an der Unternehmensspitze. Unternehmenschef David Calhoun wird Ende 2024 von seinem Posten zurücktreten. Der Chef des Verwaltungsrates, Larry Kellner, tritt bei der nächsten Hauptversammlung nicht mehr an. Und der Chef der Zivilflugzeugsparte, Stan Deal, verliert seinen Posten mit sofortiger Wirkung. Den wichtigsten Geschäftszweig übernimmt nun Stephanie Pope, bislang operative Chefin des Gesamtunternehmens.
Calhoun begründete seine alles andere als freiwillige Entscheidung in einem Brief an die Mitarbeiter. Boeing-Chef gewesen zu sein, sei "das größte Privileg meines Lebens", so der 66-Jährige. Er habe schon seit Längerem überlegt, wann eine gute Zeit für einen Wechsel im Vorstandsvorsitz sei. "Die Augen der Welt sind auf uns gerichtet", sagt Calhoun. "Ich weiß, wir werden durch diesen Moment als ein besseres Unternehmen durchkommen."
Boeing steckt seit mehreren Jahren in einer Abwärtsspirale, aus der Calhoun und seine Leute keinen Ausweg gefunden haben. 2018 und 2019 stürzten zwei Maschinen der 737-Max-Baureihe ab, 348 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Untersuchungen ergaben, dass eine schlampig und hastig entwickelte Steuersoftware dabei eine entscheidende Rolle spielte. Die Max durfte weltweit fast zwei Jahre lang nicht fliegen. Boeing verlor erhebliche Marktanteile, Airbus dominiert derzeit das Segment für Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge.
Schon länger plagen Boeing zudem Qualitätsprobleme in der Produktion: unter anderem bei der 737 und beim Langstreckenflugzeug 787, von dem ebenfalls fast zwei Jahre nur sehr wenige Maschinen ausgeliefert werden konnten. Zuletzt hatte der Unfall einer Alaska-Airlines- 737 am 5. Januar die Krise des Konzerns dramatisch beschleunigt: Mitarbeiter hatten nach einer Reparatur in der Endmontage vergessen, vier Schrauben wieder einzubauen. Während eines Linienfluges löste sich daraufhin ein Rumpfteil, nur mit Glück kam es nicht zu einer Katastrophe mit vielen Todesopfern.
Die amerikanische Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA), der bislang eine zu laxe Aufsicht von Boeing vorgeworfen wurde, reagierte mit drakonischen Maßnahmen und mehreren Prüfungen. Boeing darf etwa die Produktion der 737 nicht über 38 Maschinen pro Monat ausbauen. Derzeit werden sogar noch deutlich weniger Jets ausgeliefert. Ultimativ forderte die FAA zuletzt auch innerhalb von 90 Tagen einen genauen Plan, wie Boeing die Qualitätsmängel in den Griff bekommen will. Gleichzeitig beschweren sich Fluglinien und Leasingunternehmen, denn die Probleme sorgen auch für drastisch verspätete Auslieferungen. Auch in Europa sind zahlreiche Fluglinien betroffen, darunter Lufthansa und Ryanair. Ein Wechsel an der Boeing-Spitze schien damit nicht mehr vermeidbar zu sein.
Eine weitere Kandidatin für die Nachfolge: Stephanie Pope
Die große unbeantwortete Frage ist nun, wer Calhoun (spätestens) am Jahresende nachfolgt. Neuer Verwaltungsratschef soll der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Qualcomm, Steven Mollenkopf, werden. Der 56-Jährige ist seit 2020 Mitglied des Aufsichtsgremiums und soll nun auch die Suche nach einem Nachfolger für Calhoun führen. Gut denkbar, dass er selbst die Rolle übernimmt.
Eine weitere Kandidatin ist Stephanie Pope, 51. Die ehemalige Chefin von Boeing Global Services ist seit 30 Jahren im Unternehmen und hatte erst zu Jahresbeginn die für sie neu geschaffene Rolle als Chief Operating Officer übernommen. Hauptaufgabe: Die Produktion in den diversen Boeing-Sparten zu stabilisieren und die Probleme mit den wichtigsten Lieferanten in den Griff zu bekommen. Schon zu Beginn des Jahres hatten Beobachter vermutet, dass Pope als Calhoun-Nachfolger aufgebaut werden soll.
Doch nun werden die Karten neu gemischt. Zunächst übernimmt sie Boeing Commercial Airplanes, also die Zivilsparte, von Stan Deal, der nicht mehr zu halten war. Dass Calhoun erst Ende des Jahres gehen will, könnte auch damit zusammenhängen, dass ihr noch ein wenig Zeit für den nächsten Schritt verschafft werden soll. Als nachteilig könnte ihr allerdings ausgelegt werden, dass sie keine Ingenieurin ist, sondern wie Calhoun Buchhaltung studiert hat und sehr stark in der bisherigen Unternehmenskultur verwurzelt ist.
Viele Branchenexperten fordern nämlich einen radikaleren Neustart mit Expertise von außen. Als Teil des Neustartes müsste Boeing auch einen Nachfolger für die 737 Max entwickeln, ein Projekt, das nach gängigen Schätzungen rund 15 Milliarden kosten würde.