Luftfahrt:Wie Boeing aus der Dauerkrise kommen will

Lesezeit: 4 Min.

Im Boeing-Werk in Renton im US-Bundesstaat Washington ist die Endmontage der 737 Max angesiedelt. (Foto: Jennifer Buchanan/Reuters)

Erstmals seit Jahren lässt der US-Flugzeughersteller Journalisten in sein Werk nahe Seattle. Das Unternehmen will zeigen, dass es aus der Beinahe-Katastrophe im Januar gelernt hat. Doch prompt gibt es neuen Ärger.

Von Jens Flottau, Seattle

Auf einmal ist da dieser Lärm. Nicht das Rattern, das man hört, wenn in Flugzeugfabriken die Rümpfe zusammengebaut werden oder das Summen, wenn die Kräne die großen Bauteile von einer Position zur nächsten heben. Es klingt nach Trommeln und aus der Ferne nach Sprechchören – und genau das ist es auch. In einer Ecke der riesigen Halle im Boeing-Werk Renton im US-Bundesstaat Washington haben sich Mechaniker zusammengetan, dann ziehen sie mit ihren Transparenten langsam durch das Gebäude, vorbei an halbfertigen Flugzeugen der 737-Max-Baureihe und fordern faire Behandlung von ihrem Arbeitgeber.

Natürlich hat die Gewerkschaft Wind davon bekommen, dass Boeing an diesem Tag erstmals seit Jahren wieder Reporter in das Stammwerk gelassen hat. Ihnen soll präsentiert werden, was sich in den vergangenen Monaten bereits verändert hat. Und was sich weiter verändern muss, um den Flugzeughersteller aus seiner Dauerkrise zu holen. Wie schafft es Boeing, wieder Flugzeuge in der Qualität zu bauen, die die Kunden erwarten. Und wie lässt sich sicherstellen, dass so etwas wie am 5. Januar 2024 nie wieder passieren kann?

Der scheidende Boeing-Chef Dave Calhoun hat den Tag später als watershed Moment bezeichnet, eine Zeitenwende. Damals löste sich mitten im Flug ein Rumpfteil aus einer 737-9 der Alaska Airlines, weil Mechaniker hier in diesem Werk vergessen hatten, vier Bolzen zu befestigen. Die genauen Umstände werden immer noch von der Flugunfalluntersuchungsbehörde NTSB ermittelt. Obwohl niemand bei dem Unfall ums Leben kam, löste die Panne einen bis dahin nicht gehörten öffentlichen Aufschrei aus. Der Fall brachte Boeing in Erklärungsnot, die US-Flugaufsicht FAA griff dieses Mal, anders als nach den beiden 737-Max-Abstürzen aus den Jahren 2018 und 2019, sofort durch und verbot dem Konzern unter anderem, die Produktion auszuweiten.

Boeing hat tief in die Produktionsprozesse eingegriffen

Elisabeth Lund steht vor ihrem Publikum und wird gefragt, ob sie denn sicher sei, dass sich der Fall Alaska Airlines nicht wiederholen könne. Lund hat mal das berühmte 747-Programm geleitet, sie hatte bei Boeing alle möglichen Führungspositionen inne. Als die Krise eskalierte, wurde sie Chefin einer neuen Abteilung, die die Qualität sicherstellen soll, und funkt somit überall mit. Sie sei „extrem zuversichtlich“, antwortet Lund.

Boeing hat tief in die Produktionsprozesse eingegriffen nach dem Vorfall vom 5. Januar. Eines der Probleme war, dass die Alaska-737 mit fehlerhaften Teilen, die Rumpf-Lieferant Spirit sozusagen eingeschleppt hatte, komplett durch die Endmontage lief. Anstatt die Mängel – fehlerhaft angebrachte Nieten in diesem Fall – sofort an der ersten Montagestation zu beheben, bauten die Boeing-Mechaniker das Flugzeug fertig. Am Ende reparierten sie die Stelle zwar, aber irgendwer vergaß dabei an der letzten Station, die Haltebolzen eines zuvor entfernten Rumpfteils wieder zu montieren.

Boeing hat nun klar definiert, welche Arbeiten jeweils zwingend an den zehn Montagestationen vorgenommen werden müssen, bevor das Flugzeug weiter gehoben werden kann. So soll verhindert werden, dass am Ende eine lange Liste von Nacharbeiten anfällt. Wenn dies bedeute, dass die Maschinen einen Tag länger in den riesigen Vorrichtungen bleiben als geplant, dann sei das eben so, sagt Lund.

In Renton hat Boeing die Produktion absichtlich verlangsamt. (Foto: Jens Flottau)

Überhaupt hat Boeing die Produktion absichtlich verlangsamt. Das soll den Zeitdruck rausnehmen und das Unternehmen in die Lage versetzen, all die Änderungen einzuführen. Von dem von der FAA auferlegten Limit von 38 Flugzeugen pro Monat ist das Werk in Renton weit entfernt. Derzeit sind es 20 bis 30 Jets, die an die zumeist sehr ungeduldigen Kunden ausgeliefert werden.

Die FAA schickte Dutzende Inspektoren in die Boeing-Fabrik, um die Prozesse zu analysieren, auch zahlreiche alarmierte Fluglinien entsandten ihre Experten in die Endmontage, um Änderungen zu empfehlen. Und Boeing selbst begab sich auf die Suche nach den tieferliegenden Ursachen. Ein wichtiges Thema, so Lund, seien die Mitarbeiter. Tausende haben das Unternehmen während der Pandemie verlassen, hinterher wurden viele neue Mechaniker eingestellt, „oft ohne Erfahrung in der Luftfahrt“ sagt Lund. Nun sollen sie in längeren Schulungen nachholen, was sie bisher versäumt haben.

Die Mechaniker haben seit zehn Jahren keine Gehaltserhöhung mehr bekommen

Die Grundprinzipien, wie Boeing Flugzeuge montiert, haben sich laut Lund seit 60 oder 70 Jahren nicht geändert. Aber im Laufe der Zeit seien neue Vorschriften hinzugekommen, die den Flugzeugbau enorm kompliziert gemacht haben. Für neue Mitarbeiter seien sie schwer zu verstehen. In den kommenden Jahren will Boeing die Bauanleitungen und Verfahren so vereinfachen, dass sie auch weniger erfahrene Mechaniker verstehen. Bislang hat Boeing dies immer nur in Einzelfällen anhand von einzelnen Fällen getan, nun sollen die Handbücher systematisch überarbeitet werden.

Auch bei den Lieferanten will Boeing die Zahl der Fehler reduzieren und sendet deswegen eigene Inspektoren. Das größte Problem ist derzeit der Zulieferer Spirit Aerosystems, der 2004 das ehemalige Boeing-Werk in Wichita im US-Bundesstaat Kansas übernahm. Dort werden die Rümpfe der Flugzeuge gebaut. Seit Boeing sich enger mit den Spirit-Leuten austauscht und ständig eigene Ingenieure in Wichita arbeiten lässt, habe sich die Lage deutlich verbessert, sagt Lund. Die Zahl der Defekte, die von Lieferanten verursacht wurden, sei um 80 Prozent zurückgegangen. Die Zahl der Arbeiten, die nicht an der eigentlich dafür vorgesehenen Station vorgenommen werden, sei um die Hälfte zurückgegangen. Und Boeing braucht mittlerweile selbst nur noch halb so lange, die 737 in Renton fertigzubauen, wenn die Rumpfteile vorher eingehende Checks in Wichita durchlaufen haben. „Die Mehrzahl der Parameter ist unter Kontrolle“, sagt Lund.

Bei allem drängt die Zeit, denn die 737-Produktion ist nur eines der Probleme, die dazu beitragen, dass der US-Flugzeugbauer derzeit jedes Jahr Milliardenverluste schreibt. Auch die 787-Montagelinie in Charleston im Bundesstaat South Carolina läuft derzeit nur langsam, dort sind (andere) Produktionsprobleme aufgetaucht. Die neuen Methoden, die jetzt für die 737-Linie in Renton eingeführt werden, sollen künftig aber konzernweit gelten.

Im Hintergrund, manchmal auch im Vordergrund wie an diesem Tag in Renton, schwelt der Tarifkonflikt mit den Mechanikern. Seit zehn Jahren haben diese praktisch keine Gehaltserhöhung bekommen. Immer wieder hat Boeing stattdessen damit gedroht, Programme aus der Region um Seattle abzuziehen und dies im Falle der 787 auch getan. Entsprechend groß ist der Frust, die Gewerkschaft fordert für ihre Mitglieder 40 Prozent mehr Geld. Ab Mitte September könnte sie Werke lahmlegen, wenn Boeing sich nicht großzügig genug zeigt. Und dieses Mal haben die Gewerkschafter alle Macht auf ihrer Seite: Boeing braucht jeden.

Dass Boeing erstmals wieder mit Journalisten sprach, hat dem Unternehmen übrigens auch Ärger mit der Unfalluntersuchungsbehörde eingebracht. Das NTSB warf dem Konzern (und damit Lund) am Donnerstag vor, nicht-öffentliche Informationen aus laufenden Ermittlungen preisgegeben zu haben. Boeing muss nun eine Strafe zahlen und verliert bestimmte Rechte. Außerdem will das Gremium das Justizministerium über den Vorgang informieren, dann könnte es weitere Konsequenzen geben.

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