Süddeutsche Zeitung

Flugzeugabsturz:"Es tut uns sehr leid. Ich bin selbst Vater und untröstlich"

Vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats erklärt der Boeing-Chef die Flugzeugabstürze vor einem Jahr. Boeing habe "aus diesen Unfällen gelernt" und werde Konsequenzen ziehen.

Von Jens Flottau, Frankfurt, und Claus Hulverscheidt, New York

Es ist ein gespenstischer Anblick, der sich da unmittelbar vor Beginn dieser Anhörung im US-Senat bietet. Mehr als ein Dutzend Menschen in der zweiten Zuschauerreihe halten großformatige Fotos in die Höhe, sie zeigen die Gesichter von Frauen und Männern, Erwachsenen und Kindern. Die meisten der Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind, lachen oder lächeln zumindest, so sollen sie der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Denn keiner von ihnen lebt noch.

Der Mann, der für ihren Tod zumindest mitverantwortlich ist, sitzt direkt vor der Fotogalerie. Sehen kann Dennis Muilenburg die Zuschauer nicht, die beim Absturz von zwei Boeing 737 MAX Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter, Frauen und Männer verloren haben - und denen nur Bilder geblieben sind. Doch womöglich spürt der Boeing-Chef die Blicke im Nacken, denn gleich zu Beginn der Sitzung wendet er sich direkt an die Angehörigen: "In meinem eigenen Namen und in dem des Unternehmens möchte ich Ihnen sagen: Es tut uns sehr leid. Ich bin selbst Vater und untröstlich." Es ist das erste Mal, dass Muilenburg unmissverständlich Fehler seines Unternehmens im Zusammenhang mit den beiden Unfällen einräumt.

Genau vor einem Jahr war eine Maschine der indonesischen Fluggesellschaft Lion Air kurz nach dem Start in Jakarta ins Meer gestürzt. Vier Monate später verunglückte ein Ethiopian-Airlines-Flugzeug des gleichen Typs unter ähnlichen Umständen nach dem Start in Addis Abbeba. In beiden Fällen spielte die Steuerungssoftware Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS) die zentrale Rolle. MCAS drückte die Flugzeug-Nase wegen eines kaputten Sensors nach unten, beide Male gelang es den Piloten nicht, die Kontrolle zu behalten. Insgesamt kamen bei den Abstürzen 346 Menschen ums Leben.

Muilenburg betont in der Anhörung, Boeing habe "aus diesen Unfällen gelernt" und werde Konsequenzen ziehen, "um unsere Flugzeuge sicherer zu machen". Er habe großes Vertrauen in die jetzt vorgenommenen Veränderungen bei MCAS. Das System könne nun nur noch einmal ausgelöst werden, auch könnten die Piloten die Kräfte mit Steuerimpulsen ausgleichen. MCAS greife zudem künftig auf die Daten von zwei statt eines einzelnen Sensors zurück.

Gleich an zwei Tagen hintereinander muss Muilenburg den Senatoren Rede und Antwort stehen. Für ihn geht es um viel: Er muss den Ruf des Konzerns wiederherstellen, das weltweite Flugverbot für die 737 MAX überwinden - und seinen Job retten. Im Vergleich zu Facebook-Chef Mark Zuckerberg, der vor Tagen von Abgeordneten des Repräsentantenhauses regelrecht in die Mangel genommen worden war, hat Muilenburg gar noch Glück, denn im Senat geht man traditionell etwas weniger rüde mit vorgeladenen Managern um.

Dass viele Senatoren verärgert über Boeing und die zunächst sehr zögerliche Aufarbeitung der Abstürze sind, wird dennoch deutlich. "Beide Unfälle waren völlig vermeidbar", sagt der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, Roger Wicker, gleich zu Beginn der Anhörung, und seine Kollegin Maria Cantwell warnt, der Kostenkampf zwischen Boeing und dem europäischen Rivalen Airbus dürfe nicht "zu einem Wettbewerb um immer weniger Sicherheit werden". Zu den wenigen Rednern, die lauter werden, gehört Senator Richard Blumenthal. Er kritisiert Muilenburg scharf dafür, dass Boeing zunächst die Piloten der Unglücksmaschinen für die Abstürze verantwortlich gemacht habe. Dabei hätten diese Piloten nie eine Chance gehabt, weil Boeing ihnen die Existenz von MCAS verschwiegen habe. Blumenthal: "Sie waren gefangen in fliegenden Särgen."

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SZ vom 30.10.2019/mxh
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