Bochum:Wo die Sonne nicht mehr verstaubt

Brache OPEL Werk 1 Abriss der südlichen Werkshallen OPEL Verwaltungsgebäude Bochum Ruhrgebiet N

Vor drei Jahren schloss Opel sein Autowerk in Bochum, nur das alte Verwaltungsgebäude steht noch. Ein Drittel der Fläche ist schon wieder verkauft.

(Foto: Hans Blossey/imago)

Vor Jahren besang Herbert Grönemeyer die Industriemetropole Bochum. Viele Fabriken sind heute weg, doch die Stadt scheint den Niedergang von Kohle, Stahl, Opel und Nokia zu verkraften - und andere können daraus lernen.

Von Benedikt Müller, Bochum

Es war ein Schock für das ganze Ruhrgebiet: Vor zehn Jahren kündigte die Firma Nokia an, ihre Handyfabrik in Bochum zu schließen. Gut 2000 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz, obwohl der Konzern damals Milliardengewinne scheffelte - und obwohl hohe Subventionen Nokia zuvor ins Ruhrgebiet gelockt hatten. Doch den Finnen waren die Produktionskosten in Deutschland zu hoch; also zogen sie nach Rumänien und Ungarn um.

Stolz waren sie in den paar Jahren: Bei uns werden Handys gebaut! Heute erinnert daran nichts mehr. Auf dem Turm am Werkstor steht noch das alte Gittergestell; doch die blauen Großbuchstaben Nokia prangen nicht mehr daran. Heute betreibt die Uniklinik hier ihre Zentral-Apotheke; Amazon, die Deutsche Post und andere Logistiker haben Paketzentren eröffnet. Immerhin: Zumindest was die Zahl der Arbeitsplätze betrifft, hat Bochum den Weggang von Nokia bewältigt.

Bochum kann ein trauriges Lied singen von großen Arbeitgebern, welche die Stadt verlassen. Nach Nokia folgte vor drei Jahren der nächste Rückschlag: Da schloss Opel sein Autowerk; weitere 3300 Stellen fielen weg. Bochum hat durchgemacht, was anderswo in Deutschland gerade wieder passiert: Stolze Fabriken werden dichtgemacht. Siemens plant trotz Rekordprofiten, seine Turbinen-Fabriken in Görlitz, Leipzig und Berlin zu schließen. Konkurrent General Electric (GE) will Werke in Berlin und Mönchengladbach aufgeben. Jeweils sorgen sich nun Hunderte Beschäftigte um ihre Zukunft, wenn sie bald mit vielen Kollegen gleichzeitig eine neue Arbeit suchen müssen.

Und überall droht derselbe Teufelskreis: Mit jeder Stelle, die ein großer Arbeitgeber bei einer Werksschließung abbaut, verliert die ganze Stadt im Schnitt 1,4 Arbeitsplätze. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftlerinnen der Universitäten Heidelberg, Stockholm und London in einer Studie. Denn der Weggang der großen Firma schadet Zulieferern und Händlern vor Ort. Die Forscherinnen haben regionale Arbeitsmarktdaten aus Deutschland aus drei Jahrzehnten ausgewertet. Demnach treffen Werksschließungen vor allem Beschäftigte, die älter als 50 Jahre sind.

Doch was passiert nach den Hiobsbotschaften? Zumindest Bochum ist der Unglücksspirale entkommen: Die Stadt wächst wieder; die Verwaltung verbucht Steuereinnahmen in Rekordhöhe. Und sie zählt weniger Arbeitslose als vor dem Fortzug Nokias vor zehn Jahren. Es scheint, als hätte Herbert Grönemeyer recht, wenn er in seiner Hymne "Bochum" singt: "Tief im Westen / wo die Sonne verstaubt / ist es besser / viel besser, als man glaubt."

Wie eine Stadt große Umbrüche verkraften kann

Wie sollte eine Stadt reagieren, wenn ein großer Arbeitgeber geht? Steffen Müller unterscheidet zwei Phasen: "Kurzfristig ist entscheidend, dass es einer Region gelingt, die Fachkräfte vor Ort zu halten", sagt der Strukturwandel-Forscher am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Wenn es verwandte Arbeitsplätze in der Nähe gibt, kann die Wirtschaftskraft der Facharbeiter vor Ort bleiben. "Dies fällt erfahrungsgemäß Städten leichter, die in einem Ballungsraum liegen", sagt Müller. So ist etwa Bochum umgeben von Städten mit relativ vielen Industrie-Arbeitsplätzen. Umso bedrohlicher erscheint da die Ankündigung von Siemens, ein Werk in Görlitz zu schließen. Viele Fachkräfte dort dürften nur weit außerhalb einen ähnlich gut bezahlten Arbeitsplatz finden.

Gleichzeitig nahm das Land Nordrhein-Westfalen damals Nokia in die Pflicht: Die beiden zahlten jeweils 20 Millionen Euro für ein Wachstumsprogramm, das Gründer unterstützen und Firmen anlocken sollte. Derweil begann ein Bieterverfahren um das 28 Fußballfelder große Werksgelände. Eine Immobilienfirma aus Essen kaufte es auf - und hat es fast vollständig vermarktet. "Auf dem alten Nokia-Gelände sind mittlerweile mehr neue Arbeitsplätze entstanden, als durch den Wegzug der Fabrik verloren gegangen waren", sagt Thomas Eiskirch, Oberbürgermeister von Bochum.

Die Statistik bezeugt allerdings auch den Strukturwandel: Anstatt neuer Industriearbeitsplätze wurden Dienstleistungs-Jobs geschaffen. So sitzt mit dem Wohnungsunternehmen Vonovia neuerdings ein Dax-Konzern in Bochum; gerade baut er eine Zentrale für 1000 Beschäftigte.

Das alte Opel-Gelände wollte hingegen kein Investor als Ganzes kaufen. Zu viele Schadstoffe steckten in den Hallen; es wäre günstiger, anderswo unbelastete Flächen zu kaufen, als das Opel-Werk abzureißen und aufzubereiten. Dies übernimmt stattdessen die Bochum Perspektive 2022 GmbH, an der die Stadt zu 51 Prozent und Opel zu 49 Prozent beteiligt sind. Das Land fördert den Umbau des Geländes, das nun "Mark 51°7" heißt, zudem mit 65 Millionen Euro. "Wir sind zuversichtlich, dass wir auch Mark 51°7 erfolgreich weiterentwickeln werden", sagt OB Eiskirch.

Wo im 19. Jahrhundert die Kumpel Steinkohle förderten, und im 20. Jahrhundert Autos gebaut wurden, investiert nun unter anderem die Deutsche Post. Der Konzern baut derzeit ein modernes Paketzentrum für das halbe Ruhrgebiet auf dem Gelände; vom Jahr 2019 an gibt es etwa 600 Menschen Arbeit. Das alte Opel-Verwaltungsgebäude, fünf denkmalgeschützte Etagen hinter Klinkern, hat ein privater Investor gekauft, um Büros darin einzurichten.

Insgesamt hat die Firma Bochum Perspektive bereits ein Drittel des alten Werksgeländes verkauft, etwa auch an die Prüfgesellschaft Dekra. Mehr als 2000 neue Arbeitsplätze sind in Sicht. Doch der weitere Ab- und Neubau braucht Zeit - und viele neue Stellen können nicht mit dem Gehalt eines Auto-Facharbeiters mithalten.

Strukturwandel als Konstante

"Langfristig sollte eine Stadt versuchen, Arbeitgeber aus möglichst zukunftsorientierten Branchen anzulocken", sagt Wissenschaftler Müller. "Dies gelingt am besten, wenn in der Region genügend Fachkräfte ausgebildet werden." Da profitiert Bochum von den vielen Universitäten im Ruhrgebiet. In der Lausitz sieht es abermals schlechter aus: Die Hochschule Zittau-Görlitz zählt nur etwa 3000 Studierende.

Nokia ist unterdessen von Bochums Bildfläche verschwunden. Der kleine Bahnhof am Werkstor, der einst nach dem Konzern benannt war, heißt heute wie der Stadtteil: Bochum-Riemke. Auch die Regionalbahn nach Wanne-Eickel, die Nokia einst als Sponsor aufgepäppelt hatte, ist umbenannt: "Willkommen in der Glückauf-Bahn", begrüßt die Automaten-Stimme heute die Fahrgäste. Glück auf, der alte Gruß der Bergleute. Der Strukturwandel ist die große Konstante hier im Westen.

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