Ökomesse Biofach in NürnbergImmer mehr Bio-Lebensmittel werden importiert

Lesezeit: 4 Min.

2024 kauften die Verbraucher Bio-Lebensmittel und -Getränke für 17 Milliarden Euro.
2024 kauften die Verbraucher Bio-Lebensmittel und -Getränke für 17 Milliarden Euro. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Trotz Konsumkrise kaufen die Menschen in Deutschland Öko-Produkte wie noch nie. Doch obwohl die Nachfrage steigt, stagniert die Zahl der Biobauern. Die Gründe sind teilweise kurios.

Von Uwe Ritzer, Nürnberg

Uwe Neukamm sagt, er werde auf seinem Einödhof die neuen Vorgaben aus Brüssel umsetzen können, viele andere Biobauern aber nicht. Seit 1. Januar schreibt die EU Ökolandwirten eine allgemeine Weidepflicht vor. Rinder, Schafe oder Ziegen müssen von April bis Oktober jederzeit ungehindert Zugang zu Weideland haben. Was aber, wenn ein Bauer seinen Hof in der Mitte eines Dorfes hat, die Weiden aber außerhalb und damit keine Möglichkeit, seine Kühe ständig rein- und rauszulassen? Geschweige denn, sie fernab des Hofes zu belassen und zu melken? Nicht nur der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter sieht „viele Biomilcherzeuger vor unüberwindbaren Problemen“. Was gut gemeint dem Tierwohl dienen soll, entwickelt sich so zum existenziellen Problem.

„Viele Biobetriebe werden in den kommenden Wochen aufhören und wieder auf konventionelle Produktion umstellen“, prophezeit Neukamm, der sich in der Öko-Hofgemeinschaft im fränkischen Vorderhaslach um die Tiere kümmert. Schlimmstenfalls könnte etwa in Süddeutschland jeder vierte von der EU-Regelung betroffene Biobetrieb wegfallen. „Das hätte dann unweigerlich zur Folge, dass Biofleisch und Biomilch noch teurer werden“, warnt Neukamm.

Eine absurde Situation, denn Biofleisch, -milch und andere Produkte werden nachgefragt wie noch nie. Die Deutschen sparen zwar in vielem, nicht unbedingt aber zuvörderst an Öko-Lebensmitteln. „Trotz Inflation und Wirtschaftsflaute wächst unser Markt“, sagt Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des Bund Ökologischer Lebensmittelwirtschaft (BÖLW). Ihm zufolge kauften die Menschen in Deutschland 2024 Bio-Lebensmittel und Bio-Getränke für 17 Milliarden Euro. Gemessen an 2023 ein Plus von 5,7 Prozent.  Während der Markt also wächst, lahmt das Angebot von in Deutschland erzeugter Ware. Bei Schweinefleisch, zeitweise aber auch bei Milch, Eiern gibt es bereits dauerhafte Engpässe. Hinzu kommen Ernteschwankungen, die 2024 vor allem bei Gemüse und Obst spürbar waren. Die Folge von alledem: Es muss mehr Bio-Ware importiert werden als von den Anbaumöglichkeiten her eigentlich sein müsste.

97 Prozent der Haushalte kaufen zumindest gelegentlich Bio-Produkte

Es ist schon kurios: Da ist ein Markt, der im Gegensatz zu den meisten anderen Lebensmittel-Segmenten seit Jahren stetig wächst, allein seit 2019 um 37 Prozent. Marktanalystin Diana Schaack von der Agrarmarkt Informationsgesellschaft (AMI) zufolge resultierte das Wachstum 2024 nicht etwa aus gestiegenen Preisen, sondern aus höherer Nachfrage seitens der Verbraucher. Doch die Erzeuger, allen voran die Landwirte, folgen diesem Trend keineswegs entschlossen. Die Entwicklung stagniert; 2024 nahm die Öko-Anbaufläche in Deutschland um nur 0,4 Prozent zu. Gerade einmal 11,4 Prozent der Anbauflächen werden biologisch bewirtschaftet. „Wir brauchen eine Beschleunigung des Wachstums in der Biolandwirtschaft“, fordert BÖLW-Chefin Andres am Dienstag zum Auftakt der größten Ökomesse Biofach in Nürnberg. Dafür müsse die Bundesregierung, wie immer sie sich künftig zusammensetze, Geld in die Hand nehmen. Denn sich auf Importe zu verlassen, hieße, „Chancen für die heimische Landwirtschaft zu verschenken“.

Bio ist inzwischen tief in die Gesellschaft vorgedrungen, 97 Prozent der Haushalte kaufen zumindest gelegentlich Bioprodukte ein. Besonders gefragt waren 2024 Mehl, Speiseöl, Joghurt, Käse, Milch und pflanzliche Drinks. Der Absatz von Direktvermarktern und im Naturkost-Fachhandel steigt verhalten. Jener von Discountern und Vollsortimentern wächst hingegen sprunghaft; insgesamt fast zehn Milliarden Euro wurden dort mit Bio umgesetzt. „Mit Abstand die größte Dynamik ist jedoch in den Drogeriemärkten“, sagt AMI-Expertin Schaack. Um fast 20 Prozent ist dort der Bio-Umsatz gestiegen.

Vor wenigen Jahren, als sie eher eine Gemeinde als eine Branche war, leistete sich die Ökowirtschaft einen leidenschaftlichen Streit darüber, ob sie sich mit den großen Handels- und Drogeriemultis als Vertriebskanälen überhaupt einlassen sollte. Weil diese doch profitgetrieben sind, während viele aus der Biobranche nicht nur das Geschäft, sondern auch die Welt verbessern wollen. Diese ethik-getriebene Grundsatzdebatte scheint inzwischen zwar durch zu sein, doch es tun sich neue, damit verwandte Fragen auf. „Wir erleben eine Abnahme von Regionalität, je größer die Strukturen werden“, sagt Biobauer Neukamm. Denn eine Discounter- oder Drogeriemarktkette sei auf die zuverlässige Lieferung großer Mengen angewiesen, die regionale Erzeuger nicht garantieren können. So gerät das mit Bio eng verflochtene Prinzip der überschaubaren, regionalen Kreisläufe ins Hintertreffen.

380 000 Menschen arbeiten in Deutschland in der Ökobranche

Profiteure dieser Entwicklung sind im globalen Maßstab Großbetriebe etwa in China oder im europäischen Ausland, bei denen nicht immer sicher ist, ob wirklich Bio ist, wo Bio draufsteht. Dabei offenbaren sich grundsätzliche Schwächen im System. Jene vermeintlich neutralen Gesellschaften und Institutionen, die Ökohöfe samt ihrer Produkte nach den geltenden biologischen Kriterien zertifizieren, werden von eben diesen Höfen auch bezahlt. Böse formuliert: Diejenigen, die streng kontrolliert werden sollen, suchen sich ihre Kontrolleure selbst und bezahlen sie auch. Das schafft Abhängigkeiten. In Deutschland und vielen anderen Ländern Europas funktioniere die Zertifizierung durchaus nach den geltenden Spielregeln, heißt es in der Branche. In Bulgarien und Rumänien aufgeflogene Fälle in jüngerer Vergangenheit lassen jedoch den Schluss zu, dass dies nicht überall der Fall ist. Bauer Uwe Neukamm formuliert es diplomatisch: „Die Bio-Ethik ist nicht überall gleich entwickelt.“

Das in der Schweiz angesiedelte Forschungsinstitut für Biologischen Landbau (FiBL) beziffert das Marktvolumen mit Bioprodukten auf mehr als 136 Milliarden Euro. Gemessen am globalen Geschäft mit konventionellen Lebensmitteln scheint diese Summe marginal. Doch das wäre zu einseitig betrachtet, denn die Branche wächst. Mit weitem Abstand sind die USA Bioland Nummer eins, auf Platz zwei folgt Deutschland, an dritter Stelle rangiert China.

Wobei die Ökobranche hierzulande auch jenseits von Umsätzen zulegt. 380 000 Menschen bietet sie dem BÖLW zufolge inzwischen Arbeitsplätze. Weniger auf Bio-Bauernhöfen übrigens, als vielmehr im Handel, bei Vertrieb und Vermarktung und im bio-lebensmittelverarbeitenden Handwerk. Das sei die Größenordnung der Automobilindustrie, rechnet Verbandschefin Andres vor. Und beklagte, dass Bürokratie und immer neue Vorgaben auch auf diesem Segment die unternehmerische Entfaltungskraft lähmt.

Ist die von Bauer Uwe Neukamm kritisierte EU-Weidepflichtverordnung ein solches Beispiel? Tina Andres antwortet zurückhaltend. Vor allem die Gemeinden, in denen Biohöfe betroffen seien, müssten „pragmatische und unbürokratische Lösungen finden“, sagt sie. Die Dimension des Problems scheint schwer einzuschätzen.  Österreich hat wegen der neuen Regelung angeblich bereits fünf Prozent seiner viehhaltenden Betriebe verloren; sie haben wieder auf konventionell umgestellt. Und Deutschland? Man weiß es noch nicht.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

  • Medizin, Gesundheit & Soziales
  • Tech. Entwicklung & Konstruktion
  • Consulting & Beratung
  • Marketing, PR & Werbung
  • Fahrzeugbau & Zulieferer
  • IT/TK Softwareentwicklung
  • Tech. Management & Projektplanung
  • Vertrieb, Verkauf & Handel
  • Forschung & Entwicklung
Jetzt entdecken

Gutscheine: