Bildung:Nachhilfe aus dem Laptop

Bildung: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Viele Eltern fürchten in der Pandemie, dass ihre Kinder in der Schule den Anschluss verlieren. Deswegen wächst das Interesse an Nachhilfe enorm, auch in digitaler Form. Nicht alle finden das gut.

Von Sophie Kobel

Ist die Nachhilfelehrerin schon geboostert? Hat sie vor dem Unterricht einen Schnelltest gemacht? Braucht es eine Maske? Und jetzt hat der Sohn auch noch einen leichten Schnupfen - also die Stunde lieber ganz absagen? Mit solchen und ähnlichen Fragen schlagen sich Eltern herum, die für ihre Kinder in Pandemiezeiten Nachhilfe haben wollen. Ganz schön kompliziert. Wie praktisch dagegen ist es, am Küchentisch einfach den Laptop aufzuklappen und direkt eine Tutorin oder einen Tutor im Netz zu finden. Niemand muss das Kind irgendwo hinfahren, Abstandsregeln sind obsolet, und hat ein Nachhilfelehrer nach ein paar Monaten keine Zeit mehr, ist innerhalb ein paar Stunden ein neuer gefunden. Bezahlt wird bargeldlos, per Kreditkarte, SEPA-Lastschrift oder via Überweisung. Diese Form der Nachhilfe haben gerade wohl viele Eltern für ihre Kinder entdeckt - und zwar weltweit.

Seit Beginn der Pandemie gehen die Zahlen vieler Anbieter von virtueller Nachhilfe durch die Decke: Die Plattform "Studienkreis" verzeichnet in manchen Bundesländern innerhalb eines Jahres bis zu 90 Prozent Wachstum, die Website "Sofatutor" hat ihre Teilnehmerzahlen seit Beginn der Pandemie gar verdoppelt. Kein Wunder: Durch die Pandemie sind viele Kinder ins Hintertreffen geraten. Ausgefallene Schulstunden, überforderte Lehrer, Kinder in Quarantäne, Probleme mit dem Wlan im Fernunterricht - all das hat zu Lernrückständen bei den Schülern geführt. Die Angst vieler Eltern, ihre Kinder könnten durch das Home-Schooling den Anschluss verlieren, wächst.

Der derzeitige Marktführer in Europa ist das österreichische Start-up "Gostudent". Gerade konnte das Unternehmen weitere 300 Millionen Euro bei großen internationale Investoren wie der Deutschen Telekom, der japanischen Softbank wie auch bei Tencent aus China einsammeln. Damit steigt der Firmenwert von gostudent.org laut eigenen Angaben auf drei Milliarden Euro - und ist somit das derzeit erfolgreichste Start-up Österreichs. Im vergangenen Jahr verzehnfachte das Unternehmen seinen Gewinn und expandierte in insgesamt 22 Länder. Erst innerhalb Europas, danach nach Kanada und Lateinamerika.

Der Spanischlehrer sitzt schon mal in Madrid

Gegründet haben Felix Ohswald und Gregor Müller das Unternehmen schon ein paar Jahre vor der Pandemie: 2015 fingen sie damit an, Fragen von Schülerinnen und Schülern in Whatsapp-Chats zu beantworten. Das Problem damals: "Die Kinder haben unseren Service gefeiert, aber die Eltern haben es als Schummel-Service verstanden." Zahlen wollten sie für das Angebot entsprechend nicht unbedingt, erzählt Felix Ohswald, 26. Schon bald professionalisierten sie ihre Idee und entwickelten aus den Nachhilfe-Chats eine Plattform, die offenbar Eltern besser anspricht.

Doch wie läuft das Ganze ab? "Vereinbaren wir eine gratis Probestunde mit dem perfekten Lehrer!", strahlt es von der schlichten weißen Website. Mit einem Klick können Eltern die Schulstufe auswählen. Dann heißt es warten. Ungefähr eine halbe Stunde später ruft normalerweise ein Mitarbeiter an. Fragt, auf welcher Art von Schule das Kind ist, wie es mit den Noten läuft, was für Hobbies er oder sie hat. Interessiert sich ein Mädchen besonders für Fußball, findet sich ja vielleicht ein Nachhilfelehrer, der ebenfalls bei der Bundesliga mitfiebert. Das schafft Nähe. Zwischen 19 und 26 Euro kostet eine Einheit. Will sich ein Schüler in einer Fremdsprache verbessern, kann es auch sein, dass der Spanischlehrer aus Madrid unterrichtet.

Wer bei Gostudent Nachhilfe geben möchte, muss erst einen sogenannten Qualitätscheck bestehen. Das heißt: Unter Zeitdruck einen Wissenstest in dem Schulfach durchlaufen, bei dem Ohswald rund 80 Prozent der Bewerber durchfallen. In der nächsten Runde müssen die Bewerber pädagogische Fähigkeiten beweisen und zeigen, dass sie ihr Wissen auch gut an die Kinder vermitteln können. "Wir arbeiten seit drei Jahren daran, zu verstehen, was einen guten Lehrer auszeichnet", sagt Ohswald. Ein Problem aber bleibt: Es gibt keine offiziell anerkannten Standards. Jede und jeder kann theoretisch Nachhilfe geben.

Lehrerverband sieht digitale Nachhilfe eher kritisch

Darauf zielt auch die Kritik von Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er wünscht sich feste Standards für die Nachhilfelehrer. Die gibt es zwar auch bei analogen Vermittlungen nicht, früher ließen sich Eltern aber meist vom Klassenlehrer beraten. Heute hingegen vertrauten Eltern bei der Wahl der Nachhilfelehrer Online-Bewertungen oder Meinungen in Whatsapp-Gruppen, sagt Meidinger. Wo früher pensionierte Lehrkräfte oder Schüler aus höheren Klassen geholfen haben, sitze jetzt im besten Fall ein Lehramtsstudent vor der Kamera. "Der beste Nachhilfelehrer ist der, der das Kind im Unterricht erlebt", ist sich Meidinger aber sicher. Und fügt hinzu: "Das ist natürlich meist nicht machbar." Je weiter Tutoren aber weg von der konkreten Schulwirklichkeit und der schuleigenen Philosophie seien, desto weniger wirksam sei die Nachhilfe.

Bei den Bewertungen, die Gostudent bekommt, zeigt sich das nicht unbedingt: Das Unternehmen wirbt auf seiner Website mit 4140 Beurteilungen und insgesamt 4,5 von 5 Sternen - die Kunden scheinen zufrieden zu sein. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind gegenüber virtuellen Nachhilfe-Plattformen trotzdem skeptisch eingestellt. Zudem funktioniert Online-Unterricht laut Meidinger nicht so gut wie von Angesicht zu Angesicht, etwa wenn Lehrkräfte mal ein wenig Druck ausüben müssen. "Da kann ich lange aus dem Computer rausschimpfen", sagt Meidinger. Wirkung erziele das viel weniger als im echten Leben.

Kritsch sieht Meidinger auch, dass pandemiebedingte Fördergelder vom Staat in die offiziell nicht qualifizierte Online-Nachhilfe fließen. Der ohnehin rasant wachsende Markt profitiert so auch von den Schwächen des deutschen Bildungssystems. Doch kommt die Hilfe auch bei den Richtigen an? Das könne man derzeit noch nicht sagen, sagt der Lehrer-Präsident. Es sei generell sehr schwierig, im Bereich der Nachhilfe an solide Daten zu gelangen. Klar ist aber: Besonders Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen haben in der Pandemie gelitten. "Die haben wir digital nicht wirklich erreichen können in den vergangenen zwei Jahren", sagt Meidinger. Er bezweifelt daher, dass Online-Nachhilfe gerade bei ihnen das Richtige ist.

Dass Nachhilfe allgemein die soziale Ungleichheit verschärft, ist bekannt. Denn es sind eher gut situierte Eltern, die zusätzliche Lernstunden für ihre Kinder organisieren. Corona verstärkt diesen Effekt noch: Nach zwei Jahren Home-Schooling trauen viele Eltern dem Schulsystem immer weniger zu und haben Angst, ihr Kind könnte im zukünftigen Berufsleben schlechte Chancen haben - sogar mit bestandenem Abitur. Für private Anbieter ist diese Unsicherheit ein riesiger Markt.

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