Big Data:Der erfasste Mensch

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Digitalisierung: Vom Mensch zum Strich(code)? Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: barcode_wir_neu)

Staat und Unternehmen wollen immer mehr über die Bürger wissen. Der Kampf gegen die Digitalisierung ist chancenlos.

Von Jannis Brühl

Suchmaschinen lieben Menschen wie Ulrich Greveler. "Mein Name ist ein Primärschlüssel", sagt der Informatik-Professor von der Hochschule Rhein-Waal in Kleve. Der Begriff "Primärschlüssel" kommt aus der Datenbanksprache, und Greveler meint damit: Sein Name ist wie eine Kundennummer, eindeutig identifizierbar. Wer ihn googelt, findet Informationen, die Greveler - und nur ihm - klar zuzuordnen sind. Von seinen Erfolgen bis zu Beleidigungen, die Feinde über ihn veröffentlicht haben könnten. Menschen mit häufigeren Namen als Greveler erzeugen im Netz "Verwischung", sie sind im digitalen Rauschen schwieriger zu finden. Wer Michael Müller heißt, kennt das Phänomen. Für Greveler gibt es kein Entkommen. Er ist der Richtige, um sich über Zwangsdigitalisierung zu unterhalten.

Lassen Unternehmen und Staat uns keine Wahl mehr, wenn es um den Anschluss an digitale Erfassungssysteme geht? Eine Frage, die in Deutschland, dem Land der Datenschutz-Ängste, auf Resonanz stößt. Der Streit um die elektronische Gesundheitskarte, die von oben verordnete Digitalisierung eines ganzen Lebensbereichs, zieht sich bereits ein Jahrzehnt hin. Derzeit entzündet sich die Debatte an einem kleinen Kasten mit Digitalanzeige: dem Smart Meter. Diese vernetzten Stromzähler sollen nach Willen der Bundesregierung in den kommenden zwei Jahrzehnten verpflichtend eingeführt werden, erst für industrielle Großkunden der Stromversorger, dann für Haushalte, die viel verbrauchen.

"Ferraris-Zähler"

Sie sollen von schwankenden Strompreisen profitieren, umso mehr, je mehr Strom aus den unsteten Quellen Wind und Sonne kommt: Wenn Energie im Überfluss vorhanden und deshalb billig ist, sollen die Smart Meter - und die mit ihnen kommunizierenden "intelligenten" Haushaltsgeräte - zuschlagen. Flexible Tarife der Stromanbieter - die es derzeit noch kaum gibt - könnten Energie billiger machen. Die verplombten elektromechanischen Drehstromzähler, die zwar den eleganten Namen "Ferraris-Zähler" tragen aber jedes Jahr unelegant mit der Hand vor Ort abgelesen werden sollen, gehören dann der Vergangenheit an.

Das ist gut fürs Konto und fürs Klima, doch Smart Meter können viel über unser Leben verraten. Greveler, der das Thema intensiv erforscht hat, sagt: Anhand der Daten über den Stromverbrauch könne man herausfinden, wann Personen aufstehen oder ob sie nachts aufs Klo gehen. Würden die Daten "feingranular" erhoben, also im Sekundentakt, könnten Kenner aus ihnen sogar ablesen, durch welche Räume sich ein Bewohner bewege oder welchen Film er schaue: Selbst die Bildschirmhelligkeit eines Fernsehers ließe sich genau nachvollziehen. Solche Daten einer ganzen Stadt könnten irgendwann beim Stromanbieter zusammenlaufen.

Greveler sagt aber auch, dass diese Daten gut gesichert seien. Den Gesetzentwurf des Wirtschaftsministeriums über Smart Meter lobt er: "Die technischen Richtlinien zur Sicherheit der Smart- Meter-Datenübertragung gehen sehr weit. Die kann man fast nicht mehr sicherer machen." Der Bundesverband Verbraucherschutzzentralen (VZBV) wehrt sich trotzdem gegen den Zwang zum "intelligenten" Messgerät, er hat den Begriff "Zwangsdigitalisierung" in die Debatte eingeführt. Die Einsparungen pro Jahr seien so niedrig, dass sie sich für Privatverbraucher nicht rechneten - umso weniger, weil sie für den neuen Zähler auch noch zahlen müssten.

Florian Glatzner vom VZBV sieht die Smart Meter als Symbol für ein größeres Problem: "Faktisch ist es in Deutschland nicht möglich, der Digitalisierung zu entfliehen." Zwar tritt seine Organisation etwas alarmistisch auf - betroffene Bürger dürften nur selten 100 Euro für einen neuen Zähler zahlen, wie von ihr behauptet, sondern meist nur ein paar Euro. Zudem wäre ohnehin nur ein Bruchteil der Privatverbraucher betroffen, weil viele gar nicht über die geplante Grenze von 6000 Kilowattstunden im Jahr kommen. Dennoch ist der Bundesrat den Verbraucherschützern kurz vor Weihnachten zur Seite gesprungen: Die Regierung soll beim Datenschutz nachbessern, Privatverbraucher vom Zwang ausgenommen werden, die Geräte einzubauen. In den nächsten Wochen wird der Bundestag darüber beraten.

Wer der Frage nachgeht, ob es tatsächlich einen ernst zu nehmenden Kampf gegen die Digitalisierung gibt, der merkt: Er ist längst verloren. "Faktisch ist es in Deutschland nicht möglich, der Digitalisierung zu entfliehen", sagt Glatzner. Als Beispiel nennt er den sogenannte E-Call, den die Europäische Union verpflichtend machen will: Von 2018 an sollen alle Fahrzeuge mit einem Notrufsystem versehen sein, das Unfälle automatisch meldet - zusätzlich zu den ohnehin intensiven Bestrebungen der Autohersteller, ihre Fahrzeuge zu vernetzen.

Und im Telemediengestz steht zwar: "Der Diensteanbieter hat die Nutzung von Telemedien und ihre Bezahlung anonym oder unter Pseudonym zu ermöglichen, soweit dies technisch möglich und zumutbar ist." Dasselbe Gesetz zwingt Mobilfunkunternehmen allerdings, Namen und Geburtsdatum von Käufern von Prepaid-Karten für Handys zu erfassen. Anonymisierungsdienste fürs Internet zu empfehlen, ist zur alltäglichen Aufgabe vieler Verbraucherschützer geworden.

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Doch was heißt Zwang? Die Veränderung funktioniert vor allem über das Marktprinzip. Unternehmen verbinden digitale Angebote mit Anreizen - oder lassen einfach keine andere Möglichkeit zu. Verbraucherschützer Glatzner sagt: "Es entsteht auch ein faktischer Zwang, wenn ich beispielsweise Verträge gar nicht mehr offline abschließen kann." Reiseanbieter bieten Gutscheincodes an, die nur online funktionieren. Einzelne Lieder von Alben gibt es nur in Online-Stores online zu kaufen - und da geht ohne Kreditkarten- oder Kontodaten nichts. Handy-Rechnungen auf Papier zu bekommen, kostet extra.

Digitalisierung ist weder gut noch böse. Sie erleichtert das Leben - gerade in schwierigen Situationen. Ein Autounfall zu Prä-Handy-Zeiten war verglichen mit heute eine doppelte Katastrophe. Aber sie ist eben oft auch eine Form der Erfassung. Wirtschaft und Staat wollen nicht erst seit es die Möglichkeit gibt, "Big Data" auszuwerten, immer eher mehr als weniger wissen. Unternehmen interessieren sich dafür, was der Bürger als nächstes kaufen will, Behörden, wo er als nächstes einbricht - zum Beispiel in Form von Polizei-Vorhersage-Software, die mittlerweile in mehreren Bundesländern eingesetzt wird,

Das Analoge als Luxus

Dass die technischen Umwälzungen aufzuhalten sind, glaubt Informatiker Greveler nicht. Letzter Ausweg wäre seiner Meinung nach, dass der Bürger seine Identität manipuliere: "Ich befürworte ein Grundrecht, den Namen ändern zu können, um zu erreichen, dass frühere digitalen Spuren einer Person nicht mehr von jedermann zugeordnet werden können." Vielleicht, sagt er, würde sich sogar die Stadt Essen umbenennen, um ihren Namen für Suchmaschinen zu optimieren - schließlich ist der alles andere als eindeutig. Beides wäre ein Eingeständnis, dass nicht das Digitale dem Menschen angepasst werden muss, sondern andersherum. Ist das Analoge also verloren?

Andre Wilkens glaubt das nicht. Der Politikwissenschaftler hat ein Buch geschrieben, es heißt: "Analog ist das neue Bio". In der Nische könne das Analoge überleben. Sinnbild seiner Idee ist ein hipper Laden in Berlin, der tatsächlich Filme auf VHS-Kassetten verleiht, die von Verkäufern statt von Algorithmen empfohlen werden. Aber auch Wilkens musste im Lauf seiner Recherche lernen, dass die Masse der Menschen der Digitalisierung nicht entfliehen kann. Analog werde oft Luxus werden, den sich nur eine Avantgarde leistet. Wilkens formuliert es so: "Dann spielen nur noch die Coolen Skat mit echten Karten." Es sei ja auch kein Wunder, dass die Elite des Silicon Valley ihre Kinder auf Waldorf-Schulen schicke.

© SZ vom 09.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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