Süddeutsche Zeitung

Betriebliche Altersvorsorge:Warum die Betriebsrente oft deutlich geringer ausfällt

Eine böse Überraschung gibt es für Millionen, sobald sie im Rentenalter sind. Durch Abzüge bekommen sie viel weniger Geld als erhofft.

Von Hendrik Munsberg

Für viele ist es ein Schock: Sie haben, oft als junge Arbeitnehmer, eine betriebliche Altersvorsorge abgeschlossen. Seither leben sie im Glauben, dass ihre Kapitalleistung im Alter voll ausgezahlt wird - so wie es ihr Versorgungswerk Jahr für Jahr mitteilt. Doch später, kurz vor Auszahlung, kommt Post von der Krankenkasse. Und dann der Schreck: Es gibt viel weniger Geld als gedacht. Fast 20 Prozent der Summe sind als Beiträge an Kranken- und Pflegeversicherung abzuführen. Schon schmilzt die Altersvorsorge kräftig. Das ist gemeint, wenn - scheußliches Wort! - von "Doppelverbeitragung" die Rede ist.

Wie kam es dazu?

Rückblende, Deutschland im Jahr 2003: SPD-Kanzler Gerhard Schröder regiert mit den Grünen, Gesundheitsministerin ist Ulla Schmidt (SPD). Die gesetzlichen Krankenkassen sind hochdefizitär. Mit Zustimmung der Union wird das "Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung" auf den Weg gebracht. Folge: Seit dem 1. Januar 2004 müssen Menschen, die mit einer Betriebsrente fürs Alter vorsorgen, auf ihre späteren Auszahlungen den vollen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitragssatz zahlen - sofern sie gesetzlich krankenversichert sind. Dazu zählen auch Direktversicherungen, Pensionskassen und Pensionsfonds. Bis dahin war auf die Auszahlungen nur der halbe Beitragssatz fällig gewesen. Nicht zahlen muss bis heute, wer unter der Versicherungsfreigrenze liegt, derzeit beträgt sie monatlich 155,75 Euro. Und: Verschont werden alle privat Krankenversicherten.

Wie errechnet man die spätere Belastung bei der betrieblichen Altersvorsorge?

Die Sache ist leider kompliziert, darum ein konkretes Beispiel: Ein Arbeitnehmer mit Kindern erwartet eine Kapitalleistung von einmalig 50 000 Euro. Was bleibt davon? Die Tabelle zeigt die einzelnen Schritte. Fakt ist: Über zehn Jahre lang sind Beiträge an die Kranken- und Pflegeversicherung abzuführen, also (10 mal 12) 120 Monate. Maßgeblich ist der allgemeine Beitragssatz für die gesetzlichen Krankenkassen. Derzeit liegt er bei 14,6 Prozent. Hinzu kommt der "kassenindividuelle" Zusatzbeitrag. Bei der AOK Bayern beträgt er zurzeit 1,1 Prozent, bei der Techniker Krankenkasse 0,7 Prozent. Hinzuaddiert wird der Pflegebeitragssatz: Wer Kinder hat, zahlt 3,05 Prozent, ohne Kinder 3,3 Prozent.

Insgesamt ergibt das einen Beitragssatz von fast 19 Prozent - und einen Monatsbeitrag von 78,13 Euro. Multipliziert man den mit 120 Monaten, ergibt das 9375 Euro. Diese sind von der Kapitalsumme abzuziehen. Ergebnis: Nicht 50 000 Euro bleiben übrig, sondern nur 40 625 Euro. Unter diesem Link findet man auch den individuellen Rechner zum Runterladen. Wer aus der betrieblichen Altersvorsorge statt Einmalzahlung eine Rente erwartet, muss die Beiträge für Krankenkasse und Pflege sogar bis zum Lebensende zahlen - maximal bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Diese markiert stets die Höchstgrenze, und bezieht sich auch auf Einkünfte aus gesetzlichen Renten. Für Kranken- und Pflegekasse liegt sie bereits heute bei 4537,50 Euro pro Monat, sie wird weiter steigen.

Gibt es Ausnahmen?

Ja. Es gibt eine "Geringfügigkeitsgrenze", bis zu der keine Beiträge für Kranken- und Pflegekasse anfallen. 2019 beträgt diese Freigrenze 155,75 monatlich, also 1869 Euro im Jahr. Bis zu dieser Grenze sind Versorgungsbezüge beitragsfrei. Ist die betriebliche Altersvorsorge nur einen Cent höher, müssen die Beiträge gezahlt werden. Maßgeblich ist aber erst das Jahr der Rentenzahlung. Und wie sieht es bei einer einmaligen Kapitalauszahlung aus? Da wird so gerechnet: 155,75 Euro monatlich mal 120 Monate, ergibt 18 690 Euro. Wichtig: Die Freigrenze wird regelmäßig angepasst.

Was ist mit Riester-Renten?

Seit 2018 werden Riester-Verträge im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge behandelt wie privat abgeschlossene Riester-Verträge: Es fallen bei Auszahlung keine Beiträge an, egal wann die Verträge geschlossen wurden.

Wie viele Betroffene gibt es seit 2004?

Der "Verein Direktversicherungsgeschädigte" organisiert Proteste und Mahnwachen. Er spricht von 15 Millionen Betriebsrentnern und Direktversicherten, die vom Staat übervorteilt worden seien.

Wie viel haben die Krankenkassen seit 2004 eingenommen, wie hoch wurden Betriebsrenten insgesamt belastet?

Nach Auskunft des Bundesministeriums für Gesundheit sind es seit 2004 rund 40 Milliarden Euro. So viel würde also auch eine Rückabwicklung des Gesetzes kosten.

Den gesetzlichen Krankenkassen geht es seither viel besser. Wieso wurde die "Doppelverbeitragung" nicht abgeschafft?

Gesundheitsminister Jens Spahn wollte die Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten vom 1. Januar 2020 an halbieren. Doch im Februar machte Kanzlerin Angela Merkel die Hoffnungen zunichte. "Das geht nicht", mit diesem Machtwort, gefallen während einer Sitzung der Unionsfraktion, wurde sie zitiert. Die Entlastung sei kostspielig und habe keine Priorität.

Bei wem holt man sich nähere Auskunft?

Am besten kontaktiert man das Versorgungswerk oder den Direktversicherer, bei denen die Altersvorsorge abgeschlossen wurde.

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Quelle:
SZ vom 10.10.2019/hgn/mxh
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