Er probiert es immer wieder. Wirbt unter Kollegen für Bücher, die er selbst gerade liest. Verschenkt womöglich eines. Wünscht sich seine Kollegen mal ins Theater. Gibt eine Präsentation im Haus zurück, weil sie eine lieblose Aneinanderreihung von Hauptwörtern und Aufzählungspunkten ist, in der Branche "bullet points" geheißen, statt dass einer Wert auf ordentliche Sätze mit Subjekt, Prädikat, Objekt gelegt hätte. Der Wille zählt, denn das Bemühen bleibt weitgehend vergeblich. Viele Berater interessieren sich im Wesentlichen für ihren Laptop und die dort gespeicherten Formate, ihren kulturellen Hunger stillen sie je nach Alter im Edel-Restaurant oder in der In-Disco. Martin Wittig, 46, dagegen schafft es bei Bedarf tatsächlich, einen ganzen Abend lang kultiviert zu plaudern, dabei fast ohne Anglizismen auszukommen und jedenfalls ohne jene Manager-Idiotismen à la "am Ende des Tages".
Am Ende dieser Woche jedenfalls stößt Martin Wittig, der Sprachpfleger in einer Branche der Sprachverhunzer, ganz an die Spitze durch. Ab Montag ist er Vorstandschef von Roland Berger Consultants, einer der vier großen Strategieberatungen der Welt und die einzige deutscher Herkunft. Wittig ist erkennbar der Meinung, dass dieser Job ihm durchaus angemessen ist; er weiß zu kämpfen und sich durchzusetzen. "Alpha-Tiere" nennt die Verhaltenspsychologie diesen Typ Manager.
Der Neue übernimmt das Amt von Burkhard Schwenker, der im zarten Alter von 52 Jahren die operative Führung abgibt und sich auf das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden zurückzieht. Zusammen werden sie künftig die 2000 Mitarbeiter weltweit führen und einen 650-Millionen-Euro-Umsatz verantworten. Mit Schwenker teilt Wittig die Belesenheit, wenn die beiden auch sonst unterschiedlicher kaum sein könnten. Der Vorgänger ist ein häufig in sich gekehrter Intellektueller, ein eher wortkarger Stratege und Kettenraucher, der Nachfolger dagegen ist alltagspatent, redegewandt, sportlich (Fußball, Marathon, Triathlon), ein Kommunikator. Die traditionellen Werte des Bildungsbürgertums hält er fast trotzig hoch, sammelt Kunst, kennt Künstler. Und hat ein Haus in Zürich gekauft, weil es eine (leere) Bibliothek hatte, die er mit seinen Büchern füllen konnte.
Aus den Gegensätzen machte die Medienöffentlichkeit ein Ringen um die Macht in der ausklingenden Roland-Berger-Ära, das der patente Wittig gegen den sperrigen Schwenker gewonnen habe. Beide weisen diese Interpretation entschieden zurück. Die gegenseitigen Wertschätzungen tragen sie dann so dick auf, dass es schon wieder misstrauisch macht. Schwenker nennt Wittig einen "exzellenten Berater und guten Manager", er sei "beharrlich, offen und ehrlich". Wittig wiederum nennt Schwenker sogar einen "unglaublich ehrlichen Typ", was schon wieder Rückschlüsse auf vorherrschende Charaktereigenschaften in dieser Branche zulässt. Konkret bezeichnet er Schwenker als "authentisch, loyal, verlässlich". Authentisch, sagt Wittig, sei jemand, der Schwächen habe, zu diesen aber auch stehe. Schwächen, versteht sich, die Wittig für lässig und liebenswert hält - andernfalls ja Kritik durchscheinen würde, was eben nicht die Absicht sei, siehe oben.
Lieblingswort "authentisch"
Authentisch, Wittig mag dieses Wort, das in der Schweiz mehr verwendet wird als in Deutschland, und das ist kein Zufall, weil er selbst mit seiner Familie in der Schweiz lebt - und auch bleiben wird, obwohl die Zentrale von Roland Berger in München in einem die Stadt weit überragenden Glaspalast sitzt. Im gediegenen Geld-Zürich residierte Wittigs Berger-Team dagegen bisher in einer herrlichen Jugendstilvilla. Ein idealer Standort, meint Wittig, von dort gehen die Flieger in alle Welt, und natürlich ist Wittig wie jeder Berater, der etwas auf sich hält, vier Tage die Woche rund um den Globus unterwegs.
Ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, und schon ist das Klischee da, schon weiß er beim Gespräch am Abend tatsächlich nicht mehr, woher er am Morgen mit dem Flieger gekommen ist. Er fängt das rasch auf und erzählt von regelmäßigen Nachmittagen mit den kleinen Söhnen und vom sonntäglichen Ritual, morgens als Erster aufzustehen und Rührei für alle zu braten, seht her, ein Mensch! Und dann wird auch noch, tatsächlich, eine Stunde in Zeitungen geschmökert, handgreiflich, mit dem Original aus Papier, nicht dem Abbild im Netz.
In diesem Moment ist Martin Wittig seinem großen Vorgänger nahe, dem Firmengründer Roland Berger, 72, der sich nach vier Jahrzehnten nun wirklich aus "seiner" Firma zurückzieht. Auch Berger ist Zeitungsleser, streicht an, reißt raus, legt die Ausschnitte anderen auf den Schreibtisch. Wittig bewundert Berger, er hat ihm viel zu verdanken.
Wittigs Beraterkarriere hat als Zufallsbekanntschaft begonnen (siehe Bildtext), es folgte ein rascher Aufstieg in der europa- und weltweit ebenso schnell expandierenden Firma Berger. Wittig, der Finanzfachmann, profilierte sich als Pionier in der Schweiz. In Zürich schuf er sich und dem Unternehmen ein Netzwerk, das hält. Man kennt sich. Wichtige Kunden, bekannte Wirtschaftsführer wurden Freunde, und passend kam das Angebot, als Honorarkonsul das Gesicht Deutschlands in der Schweizer Wirtschaftsmetropole zu sein. Der Botschafter sitzt im kleinen Bern, und Wittig organisiert ihm in Zürich die Geschäfte vor Ort, vom Ausstellen der Pässe bis zu erlesenen Salon-Einladungen und Wirtschaftsgesprächen.
Die Zeiten sind gut für Wittig. Die mühsame Lösung des Seniors aus dem Tagesgeschäft "seiner" Firma hat Vorgänger Schwenker durchleben müssen; sie dauerte Jahre. Wo Berger aus dem Bauch entschieden hat, und meistens richtig, da zog Schwenker Strukturen ein, sorgte für Transparenz und klare Abläufe. "Roland", wie alle den Alten nennen, ohne ihn duzen zu dürfen, ist noch da, aber nicht mehr übermächtig.
Schwenker hatte sich Meriten erworben, als er Berger half, sich wieder aus den Fängen der Deutschen Bank zu befreien, an die Berger einst seine wachsende Unternehmensberatung verkauft hatte; den Rückkaufpreis zahlen die Partner bis heute ab, aber nicht mehr lange. Auch hier gewinnt Wittig Freiheiten. Er hat die Wahl, den Kollegen mehr Geld in Aussicht zu stellen und sich damit beliebt zu machen, oder in die Firma zu investieren und damit die Zukunft zu sichern.
Schwenker nutzt den kleinen, aber feinen Schweizer Markt für Experimente. Zum Beispiel, indem er mehr Leute aus der Industrie anstellt, statt den Nachwuchs nur von den Unis zu holen und ins Schema der Company zu pressen. Bei Berger fangen auch Mittvierziger an, die die Landesgesellschaft eines Großkonzerns geleitet haben.
Das könnte ein geschicktes Manöver sein, um die Vorbehalte jener Unternehmer zu überwinden, denen die aalglatten Berater auf den Geist gehen, die noch nie im Risiko standen, aber für alles immer das passende Chart auflegen können, samt all den Floskeln, die sie an den Business-Unis dieser Welt eingebläut bekommen haben. Seine Quereinsteiger dagegen kommen an, berichtet Wittig, der dieses Modell jetzt auf die Company insgesamt ausdehnen will. Manche dieser Neo-Berater lesen sogar Bücher.