Bei uns in Tokio:Mehr als eine Sprache

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Japanisch ist ein wundervolles Gewitter aus Klang und Rhythmus. In der Sprache steckt der Code für das japanische Denken, und es ist gut, sich beim Lernen ein Ziel zu setzen. Das ist nicht nur gut für den Job, sondern auch für den Alltag.

Von Thomas Hahn

Es war immer klar, dass die Wege durch die große Stadt eines Tages an diesen Ort führen würden. Aber jetzt, da der Korrespondent tatsächlich in irgendeinem Stockwerk irgendeines Kaufhauses irgendwo in den lärmenden Wirren von Tokio-Shinjuku in einem Friseurstuhl sitzt, ist die Beklemmung groß. Die Haare sind so hochgekämmt, als hätte man ihn mit Stromschlägen gefoltert. Der schwarze Umhang sieht aus wie eine Zwangsjacke. Und die Friseurin hat den ganz großen Rasierapparat ausgepackt.

Was wird sie tun? Hat sie die Aufgabe verstanden? Wir sind alle Gefangene des Unvermeidlichen, aber wenn die Sprachbarriere dazukommt, wird das Selbstverständliche zum Abenteuer. Es ist nicht so, dass die Japanischstunden überhaupt keinen Erfolg hätten. Die Bemühungen laufen seit Monaten, zunächst in Deutschland, seit der Ankunft vor vier Monaten in Tokio auch in Japan. Aber Japanisch ist nicht einfach nur eine andere Sprache, es ist ein ganz anderes Konzept, Aussagen anzuordnen und Worte mit Bedeutung zu versehen. "Japanisch ist Nomen-Sprache, sehr schwierig für Ausländer", hat die ehrenwerte Frau Mori neulich im wöchentlichen Einzelunterricht gesagt und dann geduldig weiterversucht, ein Gefühl für dieses lebendige verblose Spiel mit den Hauptworten zu vermitteln.

Der Rasierapparat schnurrt. Dicke Haarbüschel fallen zu Boden. Was passiert da am Hinterkopf? Einen Haarschnitt zu bestellen, ist im Grunde einfach. "Katto onegai shimasu." Wörtlich: Haarschnitt bitte. Das reicht schon. Aber dann? Die Friseurin wollte mehr Details, und dem es fehlt einfach noch dieser Killerinstinkt, ohne Rücksicht auf grammatikalische Feinheiten einfach mal zu sagen: "Mijikai, demo mijika-suginai." Kurz, aber nicht zu kurz. Die Friseurin holt ihren Kollegen, der ein bisschen Englisch kann. Das ist gut, denn dessen sorgfältig zurechtrasierte Haarpracht mit freien Schläfen ist ein schönes Beispiel dafür, was am Kopf des Kunden nicht passieren sollte. Aber ob das ankam? Oder möglicherweise das genaue Gegenteil? Die Friseurin rasiert beunruhigend lange am Hinterkopf herum.

Wenn der Friseurbesuch überstanden ist, wird mehr Japanisch gelernt. Bei der journalistischen Arbeit hilft die japanische Assistentin, viele Pressekonferenzen sind auf Englisch. Recherchen für Artikel kann man nicht nur mit der Begeisterung des Sprachschülers bestreiten, da geht es um Tiefe und Feinheiten. Aber der Alltag ist ja auch noch da, und es ist einfach nicht angenehm, hier in diesem Friseurstuhl zu sitzen und nicht sagen zu können, dass eine Glatze so wenig gewünscht ist wie eine aufwendige Berufsjugendlichen-Frisur auf Pomade-Basis.

Japanisch ist ein wundervolles Gewitter aus Klang und Rhythmus, in der Sprache steckt der Code für das japanische Denken, und es ist gut, sich beim Lernen ein Ziel zu setzen. In einem Jahr wird die Friseurin also in ihrer Muttersprache erfahren können, was ein mittelalter Zugereister unter einer 08/15-Frisur versteht.

Wobei man ihr nichts Schlechtes nachsagen darf. Als sie den Umhang wegnimmt, die letzten Haare von der Schulter wedelt und sie im Handspiegel die Rückpartie zeigt, stellt sich heraus, dass sie dieses blonde Gestrüpp, das vorher nach allen Himmelsrichtungen hin wucherte, mit viel Geschick und ohne falschen Ehrgeiz wie gewünscht gebändigt hat.

© SZ vom 15.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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