Beatrice Weder di Mauro im Interview:"Europas Zerfall hat begonnen"

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Die Wirtschaftsweise Beatrice Weder di Mauro zählt zu den wichtigsten Beratern von Kanzlerin Merkel. Ein Gespräch über die Angst vor einem verlorenen Jahrzehnt, Ökonomen an der Regierungsspitze - und die Frage, was die Politik in der Schuldenkrise tun muss.

Markus Balser und Markus Zydra

Beatrice Weder di Mauro, 46, gilt als einflussreichste deutsche Ökonomin. Seit 2004 gehört die Mainzer Professorin dem Sachverständigenrat der Bundesregierung an und zählt damit zu den wichtigsten Beratern von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Weder di Mauro warnt vor einer weiteren Eskalation der Schuldenkrise und fordert einen Paradigmenwechsel in der Politik: einen harten, jahrelangen Schuldenabbau.

Beatrice Weder die Mauro fordert als Wirtschaftsweisin den harten Schuldenabbau. (Foto: picture alliance / dpa)

SZ: Frau Professor Weder di Mauro, die Ereignisse in der Euro-Krise überschlagen sich. Die Rettung wirkt wie ein Rennen, das die Politik nicht gewinnen kann. Haben Berlin, Paris und Brüssel die Kontrolle längst verloren?

Weder di Mauro: Die Politik versucht sie zurückzugewinnen. Historisch kennen wir eine solche Zuspitzung einer Krise aus den Schwellenländern. Es ist eine unheilvolle Dynamik aus Finanz- und Bankenkrise, die in Wirtschafts- und Politikkrisen mündet.

SZ: IWF-Chefin Christine Lagarde fürchtet ein verlorenes Jahrzehnt, wenn nicht bald Ruhe ist. Sie auch?

Weder di Mauro:Ja, man darf das Problem nicht kleinreden, die unmittelbare Gefahr liegt in der Euro-Zone, aber sie kann ausstrahlen auf die ganze Welt. Ein globaler Rückschlag ist möglich.

SZ: Wie wahrscheinlich sind weitere Eskalation und globale Abwärtsspirale?

Weder di Mauro: Noch kann eine Eskalation aufgehalten werden. Aber es wird lange dauern, bis die Schulden abgebaut und sich Arbeitsmärkte und strukturschwache Branchen angepasst haben. Deutschland hat das im letzten Jahrzehnt vorgemacht - mit Einschnitten in den Sozialsystemen und Konzernen. Solche jahrelangen Anpassungsprogramme bergen allerdings einen Systemkonflikt: Spannungen zwischen Finanzmärkten, die im Minutentakt neu bewerten und wirtschaftlichen Veränderungen, die sich über Jahre hinziehen.

SZ: Nach Italien kommt Frankreich in den Sog des Misstrauens, obwohl es ein Sparpaket aufgelegt hat. Erleben wir das Endspiel um die Währungsunion?

Weder di Mauro: Es gibt zwei Szenarien, die es zu vermeiden gilt: Das plötzliche unkontrollierte Auseinanderbrechen der Euro-Zone. Zum anderen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) noch stärker in die Bresche springt. Denn Geld drucken, wie es die Notenbanken in den USA und Großbritannien machen, führt letztlich zu Inflation. Deshalb hat der Sachverständigenrat ein Programm zur Tilgung der Schulden zur Diskussion gestellt.

SZ: Sie fordern mit den Weisen eine radikale Abkehr von der internationalen Politik auf Pump - nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Wie sollen Präsidenten und Premiers in der Krise runterkommen von den Billionen-Bergen?

Weder di Mauro: Die Frage ist: Gibt es eine realistische Alternative, um die Teufelskreise zu brechen? Sollten sich die Beschlüsse vom letzten Gipfel als ungenügend erweisen, würde die Strategie, die Schuldenkrise mit weiteren Schulden zu bekämpfen, an ihre Grenzen stoßen. Aber der Abbau von Schulden funktioniert nur langfristig. Wir gehen vom Ziel aus, dass alle Länder der Euro-Zone in etwa zwei Dekaden bei einem Schuldenstand von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - dem Maastricht-Kriterium - sein sollen.

SZ: Politiker, die über 20 Jahre lang sparen? Keine Wahlgeschenke mehr? Sie sind eine Utopistin!

Weder di Mauro: Niemand sagt, dass das einfach wird. Aber umgekehrt haben sich die Probleme auch über viele Jahre aufgebaut. Nun gibt es keine Alternative zur Konsolidierung. Das ist die Realität, keine Utopie.

SZ: Viele Menschen sagen, die Schuldenstaaten hätten auf Kosten der anderen gelebt und sollten die Suppe nun gefälligst allein auslöffeln. Machbar?

Weder di Mauro: Nicht, wenn man gegen ständig steigende Zinsen ankämpft. Dann werden aus Liquiditätsproblemen irgendwann unweigerlich Solvenzprobleme. Mit den momentanen Zinsen ist in Italien schon die Stabilisierung des Schuldenniveaus schwer zu erreichen, ganz zu schweigen vom Abbau.

SZ: Warum? Ihr Kollege Hans-Werner Sinn fordert, Griechenland solle die Drachme wieder einführen und auf eigene Faust reformieren.

Weder di Mauro: Eine Wiedereinführung und starke Abwertung der Drachme würde bedeuten, dass alle Schulden, die auf Euro lauten, um ein Vielfaches höher wären und nicht zurückbezahlt werden könnten. Der Staat, das Bankensystem und weite Teile des Unternehmenssektors wären damit bankrott. Da die Ersparnisse entwertet würden, würde das die kleinen Sparer hart treffen. Deshalb würde ein Run auf die Banken lange vor der Währungsumstellung einsetzen. Chaos und wirtschaftlicher Kollaps wären unvermeidbar. Das muss man dem Gewinn an Wettbewerbsfähigkeit der Exporte entgegen stellen.

SZ: Viele wollen auch in Deutschland längst die D-Mark zurück.

Weder di Mauro: Auch das hätte unüberschaubare Konsequenzen. Vom Aufwertungsschock wären zum einen die deutschen Exporte betroffen, die plötzlich international viel teurer würden. Die unter großen Mühen wiedergewonnene Wettbewerbsfähigkeit wäre mit einem Schlag zunichte gemacht. Zum anderen würden die Deutschen Anlagen im Ausland entwertet und müssten teilweise abgeschrieben werden. Dies würde wiederum das deutsche Finanzsystem belasten.

SZ: Die Gemeinschaft muss also weiter für die Fehler Einzelner büßen?

Weder di Mauro: Nein. Das Ziel muss es sein, die Verluste aus der Krise gering zu halten und die Bedingungen herzustellen, damit jedes Land selbst haftet. Der Schlüssel liegt jetzt bei Italien. Das Land ist bei einem vernünftigen Zinsniveau in der Lage, seine Schulden abzutragen. Die Refinanzierung über den Tilgungsfonds würde dies ermöglichen, da der Zinssatz von sieben auf etwa vier Prozent sinken würde. Italien würde aber dennoch einen harten Sparkurs fahren und etwa 4,5 Prozent Primärüberschuss über 25 Jahre erzielen müssen. Machbar ist das. Einige Industrieländer haben solche Überschüsse über längere Zeit gehabt.

SZ: Ihr Vorschlag gilt als Misstrauensvotum gegen die Rettungspläne der Bundesregierung. Die will dem Europäischen Rettungsfonds EFSF per Hebel mehr Schlagkraft verleihen. Nicht genug?

Weder di Mauro: Die Beschlüsse vom letzten Gipfel gehen in die richtige Richtung. Aber sie müssten schnell und umfassend umgesetzt werden. In der momentanen Verunsicherung wird es nicht einfach sein, den EFSF zu hebeln. Zudem ist die Umschuldung von Griechenland noch nicht im Sack. Wir haben im Sachverständigenrat klar gesagt: Falls sich zeigen sollte, dass die Gipfelbeschlüsse nicht ausreichen, wäre die Zeit für den weiterreichenden Schritt gekommen.

SZ: Ihr Pakt läuft auf eine Vergemeinschaftung der Schulden hinaus - so wie bei den umstrittenen Euro-Bonds. Wie wollen Sie verhindern, dass Pleitekandidaten einfach weitermachen wie bisher - und andere die Zeche zahlen?

Weder di Mauro: Indem wir Kontrolle und Zwang zu Sparmaßnahmen verschärfen. Uns geht es darum, Haushaltsdisziplin zu stärken und den Abbau der Schulden zu ermöglichen. Solvente Länder mit einem Schuldenstand von mehr als 60 Prozent würden diese schrittweise in den Tilgungsfonds überführen und abzahlen. Griechenland wäre nicht dabei, weil es ein Solvenzproblem hat und seine Schulden auch bei niedrigeren Zinsen nicht voll zurückzahlen kann. Um die Tilgung zu sichern, werden verfassungsrechtliche Sicherungen eingebaut. Zum Beispiel müssen die Staaten eine Steuer zur Tilgung benennen. Zudem muss die Haushaltsdisziplin durch eine Schuldenbremse mit konkreten Zielen verankert werden. Euro-Bonds sind dagegen eine uneingeschränkte Einladung zur Disziplinlosigkeit. Der Schuldentilgungsfonds kommt mit dem Zwang zur Disziplin und schafft sich mit der Zeit ab.

SZ: Und wenn ein Euro-Staat seine Versprechen nicht einhält?

Weder di Mauro: Verstöße werden mit Strafen belegt, und wer die Bedingungen für den Tilgungsfonds nicht erfüllt, wird von der Finanzierung ausgeschlossen und muss sehen, wie er sich an den Märkten Geld besorgt. Wenn er keines erhält, dann muss es ein Regelwerk für eine Staatsinsolvenz geben.

SZ: Also mehr Druck, wie in der Kindererziehung?

Weder di Mauro: Auf jeden Fall Regeln, die durchgesetzt werden. Bisher war es so, dass der Jugendliche abends zu spät nach Hause kam und die Hausaufgaben nie machte. Aber niemand hat ihn ermahnt. Es gab keine Vorwarnung. Dann wechselte plötzlich jemand die Schlösser aus. Das ist die Parallele zum Kapitalmarkt. Für viele Länder sind die Schlösser ausgewechselt. Sie bekommen keinen Zugang mehr - und stehen buchstäblich auf der Straße.

SZ: Die Euro-Zone soll sparen und wachsen, ist das möglich?

Weder di Mauro: Wir gehen in unseren Berechnungen von einem Nominalwachstum von drei Prozent aus, bei zwei Prozent Inflation. Das ist zu schaffen. Da der gesamte Entscheidungsprozess auf 25 Jahre angelegt ist, verläuft er nicht abrupt, der Tilgungsfonds ist ein Übergangspfad, der die Konsequenzen des Sparens abfedert. Das erzeugt Glaub- und damit neue Kreditwürdigkeit. Die Einführung der deutschen Schuldenbremse hat das gezeigt.

SZ: Auch bei Ihrem Rettungsplan würde Deutschland die größten Risiken tragen - mit Steuergeldern, Gold und den Devisenreserven als Sicherheit. Das ist den Menschen kaum noch zuzumuten.

Weder di Mauro: Gold und Devisenreserven braucht es nicht zwingend, es sind andere Sicherheiten möglich. Aber klar ist: Die Zinsen auf dem Anteil, den Deutschland einzahlt, werden sich leicht erhöhen. Wir sagen nicht, dass es gratis ist, aber es ist dafür eine endgültige Lösung, statt immer weiter nachzulegen.

SZ: Kanzlerin Angela Merkel geht auf Konfrontationskurs zu Ihrem Gremium. Sie hält die Idee in Europa praktisch für gar nicht umset zbar. Ärgert Sie das?

Weder di Mauro: Nein, natürlich müssen die verfahrenstechnischen und verfassungstechnischen Fragen geprüft werden. Aber die Anzahl ernsthafter Lösungsmöglichkeiten, die überhaupt noch umsetzbar sind, ist klein. Und warum sollte der Tilgungspakt nicht, wie der EFSF, zwischen einzelnen Euro-Zone Regierungen vereinbart werden?

SZ: Weil die Spaltung in ein Euro-Europa und den Rest droht. Vor diesem Zerfall der EU warnt Kommissionspräsident José Manuel Barroso eindringlich.

Weder di Mauro: Der Währungsraum braucht nun mal strengere Schuldenregeln. Wenn die EU die nicht durchsetzen kann, müssen das die Länder der Euro-Zone für sich tun. Die Euro-Länder dürfen sich auch nicht aufhalten lassen, von denen, die Bedenken haben und nicht an einem Strang ziehen. Und was den Zerfall angeht: Der ist doch längst da.

SZ: Was meinen Sie?

Weder di Mauro: Zehn Jahre herrschte die Illusion, eine gemeinsame Währung sei auch ein gemeinsamer Raum. Nun tritt überall die nationale Sicht in den Vordergrund und die letzte Dekade ist wie ausgelöscht. Je länger die Krise dauert, desto schwieriger wird es, wieder Gemeinsamkeiten zu finden.

SZ: Die Schuldenkrise tobt jetzt schon seit fast zwei Jahren. Ein Ende ist nicht in Sicht. Brauchen wir ein neues globales Regime der Kontrolle der Finanzmärkte?

Weder di Mauro: An entscheidenden Stellen ist die bisherige Reform des Finanzsystems ungenügend. Noch immer gibt es weder in Europa, geschweige denn weltweit, ein Insolvenz- und Restrukturierungsregime für systemisch relevante Finanzinstitute. Und noch immer sind die Eigenkapitalpuffer zu dünn.

SZ: Banken müssen mit mehr Milliarden vorsorgen?

Weder di Mauro: Höhere Kapitalpolster schützen das System vor Schieflagen und Steuerzahler davor, einspringen zu müssen. Perspektivisch sollte die risikoungewichtete Eigenkapitalquote für systemrelevante Institute auf mindestens fünf Prozent angehoben werden. Zur Zeit haben große deutsche Banken im Schnitt weniger als zwei.

SZ: Sie selbst sind in einem Entwicklungsland aufgewachsen - im bürgerkriegsgeschüttelten Guatemala. Relativiert die Erfahrung manches Problem der Schuldenkrise?

Weder di Mauro: Das ist sicher ein Grund, weshalb ich Ökonomin wurde und über Finanz- und Schuldenkrisen geforscht habe. Lateinamerika hat viele Erfahrungen mit Schuldenkrisen. Die der 80er Jahre hat den Kontinent um mindestens ein Jahrzehnt zurückgeworfen. Das darf in Europa nicht geschehen.

SZ: Lucas Papedemos als griechischer Ministerpräsident, Mario Monti als italienischer Regierungschef - die internationale Politik erlebt die Rückkehr der Wirtschaftsfachleute in Schlüsselpositionen. Können Ökonomen wirklich die besseren Politiker sein?

Weder di Mauro: Es ist gut, wenn sich in Krisenzeiten Experten durchsetzen. Beide sind hoch erfahrene und international angesehene und gut vernetzte Ökonomen. Das sollte bei der Kommunikation mit den Finanzmärkten und den internationalen Institutionen hilfreich sein.

SZ: Klingt nach einer Bewerbung für den Politbetrieb . . .

Weder di Mauro: . . . so war es nicht gemeint. Ich bin an der Schnittstelle von Wissenschaft und Beratung sehr zufrieden.

© SZ vom 14.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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