Der Weg zur Hoffnung führt nach San Sebastián im Baskenland. „Welcome to Hope“ steht in großen, metallenen Buchstaben vor einem Gebäude im Technologiepark Miramón. „Willkommen zur Hoffnung“, so könnte auch eine Bierkneipe in Leverkusen heißen. Aber hier geht es um Viralgen, die Firma gehört zu Bayer und stellt Gentherapien her. Sie zielen darauf ab, eine Krankheit zu behandeln, indem genetisches Material in die Zellen des Patienten eingebracht wird. Auf solchen Therapien ruhen die Hoffnungen von Vorstandschef Bill Anderson. Der Vorstandschef des Dax-Konzerns Bayer steht in einem Konferenzraum von Viralgen und spricht über nicht weniger als Magie. Für ihn ist das, was sie hier machen, Magie. Und solche Orte gebe es viele bei Bayer.

Anderson redet in Superlativen: „Als ich geboren wurde, konnte sich niemand vorstellen, dass das möglich sein werde.“ Und dann zieht er einen Vergleich, der größer kaum sein könnte. Was die Forscher an Orten wie diesen täten, sei wie der David von Michelangelo. Die Skulptur – mehr als fünf Meter hoch und mehr als fünf Tonnen schwer – meißelte der Künstler Anfang des 16. Jahrhunderts aus einem einzigen Block Marmor. Ein paar Künstler vor ihm waren an dem mächtigen Stein gescheitert. Die Statue, die in der Galleria dell’Accademia in Florenz zu sehen ist, stellt den Hirten David vor dem Kampf gegen den Riesen Goliath dar, in dem dann doch der vermeintlich Schwächere siegte. Vielleicht hat der Vergleich, den Anderson da gerade sieht, mehr Ebenen als beabsichtigt. Jedenfalls: Bill Anderson hat Kolossales vor, nicht nur mit der Pharmasparte seines Unternehmens.
Im Konferenzraum von Viralgen haben sie eine Plakatwand aufgebaut, auf der „Health for all, hunger for none“ steht. Ein kolossaler Anspruch. Gesundheit für alle, Hunger für niemanden. Noch so ein Slogan, sollte es bei Bayer eine Rangliste für Slogans geben, stünde dieser wohl ganz oben. Er fasst die Geschäfte des Konzerns in wenige Worte: Medikamente und Agrarprodukte.
Seit Juni 2023 ist der Mann aus Texas Chef des deutschen Pharma- und Agrochemie-Riesen. Er löste Werner Baumann ab, der Bayer mit dem 63 Milliarden Dollar teuren Kauf des US-Saatgutkonzerns Monsanto in eine abgrundtiefe Krise stürzte. Für das Projekt gab es auch einen Slogan: Advancing together, gemeinsam voranschreiten. Aber für Bayer erwies sich die Übernahme als wuchtiger Rückschlag. Zehntausende Menschen überzogen den Konzern mit Klagen, weil sie von Monsanto hergestellte Unkrautvernichter wie Round-up mit dem Wirkstoff Glyphosat ihre Krebserkrankung zuschreiben. Bis heute hat Bayer Milliarden für Vergleiche gezahlt, und die Schlachten vor amerikanischen Gerichten sind noch nicht vorbei. Zumindest dieses Rechtsrisiko will Anderson bis Ende 2026 erledigt haben.
2015 war Bayer an der Börse 110 Milliarden Euro wert, heute sind es 27 Milliarden
Das Zahlenwerk von Bayer ist bis heute gezeichnet von Rechtsrisiken, im Wesentlichen geht es dabei um Glyphosat. Im zweiten Quartal 2025 machte der Dax-Konzern aufgrund von Sonderaufwendungen für Rechtsfälle rund 200 Millionen Euro Verlust. Der Aktienkurs hat sich bis heute nicht erholt. 2015, also im Jahr bevor Werner Baumann die Übernahme anzettelte, war Bayer mit 110 Milliarden Euro der wertvollste Konzern im Dax. Zum Handelsschluss vergangenes Woche kostete das Papier 27,50 Euro. An der Börse war Bayer damit 27 Milliarden Euro wert, das ist nicht mal halb so viel, wie er damals für Monsanto zahlen.
Recht schnell benannte Anderson die größten Probleme von Bayer. Die Rechtsrisiken sind nur eines, ein weiteres sind die hohen Schulden des Konzerns. Bei deren Abbau kann der Konzernchef erste Erfolge verbuchen. Außerdem will Anderson die konzerninterne Bürokratie abbauen und Hierarchieebenen abschaffen. Dem Konzern hat er ein neues Organisationsmodell verpasst, es heißt: Dynamic Shared Ownership. Jede wortwörtliche Übersetzung hätte Mängel. Die Ziele lassen sich aber beschreiben. Entscheidungen sollen dort getroffen werden, wo die Arbeit gemacht wird, das erklärt Anderson immer wieder. Er will den Konzern schlanker, effizienter und flotter machen. Seit der Einführung Ende 2023 hat Bayer rund 12 000 „Positionen“ abgebaut, die Mehrheit waren nach Firmenangaben Managementstellen mit Personalverantwortung.
Er wolle die „Pipeline“ stärken, kündigte Anderson damals an. Als Pipeline werden in der Pharmaindustrie jene Produkte bezeichnet, die Firmen in der Entwicklung haben, die aber noch nicht auf dem Markt sind. Das Ende der Patentlaufzeit von Medikamenten wie Xarelto rückte 2023 bedrohlich näher. Bayer hat mit dem Blutgerinnungsmittel jedes Jahr Milliarden umgesetzt. Nach Ende der Patentlaufzeit dürfen Hersteller von Generika das Medikament nachahmen, sie bringen es in der Regel zu deutlich niedrigen Preisen auf den Markt. Seit ein paar Wochen sind Generika von Xarelto auf dem Markt. Bayer drohte, was Brancheninsider eine Patentklippe nennen, ein Umsatzeinbruch nach dem Ende der Patentlaufzeit.
Nun sehe es eher nach einer Delle als nach einer Klippe aus, sagt Stefan Oelrich, Vorstandsmitglied und Chef der Pharmasparte. Er erzählt von den Produkten, die Bayer auf den Markt gebracht hat, etwa Kerendia zur Behandlung von Menschen mit chronischen Nierenleiden, in den USA ist es jetzt auch zur Behandlung von Herzinsuffizienz zugelassen. Oder Nubeqa zur Behandlung von Prostatakrebs. „Das sind nicht nur Blockbuster-Kandidaten, das sind Blockbuster“, sagt Oelrich in San Sebastián.

„Wir haben die Wende geschafft“, sagt Anderson, was jetzt nicht bedeute, dass man zufrieden mit der Pipeline sei. Pharmachef Oelrich sagt: „Wir wollen die Ersten oder die Besten in einer Klasse sein. Wenn man für seine Innovationen honoriert werden und einen guten Preis erzielen will, muss man besser sein als alle anderen.“ Unter den großen Pharmakonzernen liege Bayer derzeit auf Platz 17. Oelrich will unter die ersten zehn – irgendwann. Er nennt kein Jahr.
Die Pipeline füllt sich, auch mit Gen- und Zelltherapien. Die Bayer-Tochterfirma Askbio, zu der auch Viralgen gehört, arbeitet an einer Gentherapie zur Behandlung von Parkinson. Weiter ist Bluerock mit seiner Zelltherapie. Bluerock und Askbio haben ihren Hauptsitz in den USA. Am weitesten ist Bluerock mit Bemdaneprocel. Bei dieser Zelltherapie werden aus Stammzellen Vorläufer von Neuronen gewonnen, die die dann in das Gehirn des Patienten implantiert werden. Dort sollen sie zu Neuronen ausreifen und Netzwerke bilden, die den Botenstoff Dopamin produzieren. Für eine Studie der klinischen Phase III wurde der erste Patient aufgenommen. Insgesamt werden rund 100 für die Studie gebraucht, bis Ende 2026 soll Bayer zufolge die Rekrutierung abgeschlossen sein. Sollte die Studie erfolgreich sein, könnte die Zulassung beantragt werden.
Im Laufe einer Parkinson-Erkrankung gehen die Dopamin produzierenden Nervenzellen verloren. Fehlt der Botenstoff, leiden die Menschen unter Zittern und Muskelsteifigkeit, die Bewegungen verlangsamen sich. Parkinson sei die am schnellsten und stärksten zunehmende neurologische Erkrankung weltweit, antwortet Professorin Daniela Berg, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), auf Fragen der SZ. Allein in Deutschland liege die Zahl der Parkinson-Patienten zwischen 300 000 bis 400 000. „Die Option einer Stammzelltherapie ist für von Parkinson Betroffene sehr vielversprechend“, sagt Berg. Sie ist Direktorin der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel.

Ihr zufolge laufen mehrere Studien zu Zelltherapien in verschiedenen Phasen. Laut Medienberichten arbeiten neben Bluerock auch mehrere andere Unternehmen und Institute an Zelltherapie für die Behandlung von Parkinson. Das japanische Unternehmen Sumitomo Pharma hat Anfang August in Japan einen Zulassungsantrag gestellt. Sumitomo arbeitet ähnlich wie Bluerock mit aus Stammzellen gewonnen Vorläuferzellen von Neuronen.
Bayer-Manager Oelrich hofft, bis Ende der Dekade Parkinson-Patienten eine neue „Therapieoption“ zur Verfügung stellen zu können. „Aber noch ist es eine riskante Technologie.“ Es gehe nicht nur darum, eine Therapie zu entwickeln. „Viele Gen- und Zelltherapien scheitern daran, dass es nicht gelingt, die Produktion hochzufahren“, so der Manager. Für Medikamente müsste es einen eigenen Konjunktiv geben, denn die Entwicklung kann auch in der dritten Phase scheitern. Mit den Grenzen des Möglichen hat Bayer Erfahrungen. Im November 2023 musste der Konzern eine Phase-III-Studie mit dem Gerinnungshemmer Asundexian abrechnen, weil sie der Standardtherapie unterlegen war. Innerhalb eines Tages brach der Aktienkurs um fast ein Fünftel ein, so stark wie nie zuvor.
Zell- und Gentherapien sind vergleichsweise neu. In der EU sind nach Angaben des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) bislang 16 Gentherapien und vier Zelltherapien einschließlich technologisch bearbeiteter Gewebeprodukte. Führend in der Entwicklung seien mit Abstand die USA und China.

Es geht auch um viel Geld. Für eine Infusion des Mittels Zolgensma von Novartis zahlen Krankenhäuser – es wird nur an diese ausgeliefert – knapp 1,4 Millionen Euro. Wie bei vielen dieser Therapien sei eine einmalige Gabe vorgesehen, erläutert Apotheker Niels Tampe vom Datendienstleister Abdata. Teurer sind ihm zufolge „nur noch“ mit jeweils gut zwei Millionen Euro das Bluter-Medikament Hemgenix von CSL Behring und Libmeldy von Orchard Therapeutics zur Behandlung eines Enzymdefekts bei Kindern. Therapien wie Zolgensma dienen der Behandlung seltener Krankheiten. Aber Parkinson ist eine Volkskrankheit. Da geht es um Milliarden. Weder Oelrich noch Anderson wollen sich äußern, welchen Preis sie für ihre Therapien verlangen wollen. Dazu sei es noch zu früh, sagt Oelrich.
Unter Anderson habe es zuletzt einige positive Entwicklungen gegeben, sagt Markus Manns von der Fondsgesellschaft Union Investment. Die Pharmasparte sei kein Sorgenkind mehr, der DSO-Programm scheine reibungslos zu laufen, und auch beim Thema Glyphosat gebe es Lichtblicke. „Die Klagen sind nach wie vor Bayers größtes Problem.“ Die Chancen, dass sich der Supreme Court, das Oberste Gericht, dieses Mal der Sache annimmt, seien höher als beim letzten Mal, aber immer noch kleiner als 50 Prozent. Sollte der Supreme Court entscheiden, dass Bundesrecht über einzelstaatliches Recht geht, wäre Bayer schnell Tausende Klagen los, denn nach Einschätzung der US-Umweltbehörde EPA stellt Glyphosat bei einer Verwendung laut Kennzeichnung kein Risiko für Menschen dar. Das Thema Glyphosat binde in hohem Maße Managementkapazität und koste viel Geld, das eigentlich für die strategische Weiterentwicklung des Konzerns zur Verfügung stehen sollte, so der Fondsmanager.
.„Wir haben Fortschritte gemacht“, sagt Anderson in der ersten Gesprächsrunde in San Sebastián: „Wir haben einen langen Weg hinter uns, und wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ Er hat ja auch nie gesagt, dass es schnell geht. Womöglich ist Bill Anderson, 59, der größte Hoffnungsträger von Bayer.

