Wenn ein Staatssekretär auf seiner Sommertour vorbeischaut, kann man als kleines Start-up keinen so schlechten Job gemacht haben. In ihrem Büro am Tübinger Marktplatz, Butterbrezeln und Hafermilch auf dem Tisch, sitzen die Gründer der Firma Optocycle in kurzen Hosen und erklären Andre Baumann vom baden-württembergischen Umweltministerium ihre Vision: „Eine Welt, in der aus jedem Bauschutt ein Baustoff wird“, sagt Geschäftsführer Max Gerken. Baumann findet das „Hammer“.
Bauabfälle, also Bauschutt, Straßenaufbruch, Boden, Steine und Baustellenabfälle, sind der größte Abfallstrom Deutschlands. Etwa 222 Millionen Tonnen sind laut Umweltbundesamt im Jahr 2021 angefallen. Das ist fast viereinhalbmal so viel Müll wie in den Haushalten. Es geht hier um mehr als die Hälfte des deutschen Abfalls – und darum, was daraus gemacht wird.
Wenn ein Haus abgerissen wird, kann derzeit nur 80 Prozent des Materials wiederverwertet werden. Das Potenzial liegt bei 99 Prozent – wenn richtig entkernt und sortiert würde. Doch das passiert noch nicht. Die Lkw-Ladungen, die auf den Recyclinghöfen ankommen, schätzen Mitarbeiter bloß per Blickdiagnose ein: so viel Beton, so viel Ziegel, so viel Naturstein. Was wirklich alles ankommt, weiß niemand so genau. Und so geht den Höfen vieles, was sie recyceln könnten, durch die Lappen. „Wir brauchen Transparenz über das Material“, sagt deswegen Optocycle-Gründer Gerken.
Ein Besuch auf dem Recyclinghof der Firma Feeß in Kirchheim unter Teck, 30 Kilometer südöstlich von Stuttgart, wo sie aus altem Beton neuen Beton machen. Ein Lkw, der Abbruchmaterial geladen hat, fährt an und hält auf einer Waage in dem riesigen Tor zum Hof. An der Decke des Tors haben Gerken und seine Mitarbeiter eine hochauflösende Kamera installiert. Sie scannt die Lkw-Ladefläche und kann selbst zentimetergroße Bruchstücke erkennen und unterscheiden.
Gerken sitzt ein Stockwerk höher am Laptop. Es dauert einen Moment, dann hat die Kamera das Bild übertragen. In Echtzeit hat das System die Zusammensetzung der Ladung mithilfe von künstlicher Intelligenz analysiert. Auf dem Laptopbildschirm erscheint ein Balkendiagramm: so viel Beton, so viel Erde, so viel Bauschutt und so viel sonstiges Material ist darunter. Auch die Kantenlänge des Betons spuckt das System aus. Oder den Verschmutzungsgrad der Ladung. Es kann unterscheiden zwischen kiesiger und lehmiger Erde. Warum das wichtig ist? All das hat Einfluss darauf, wie viel der Recyclinghof für die Lieferung bezahlt, und, noch wichtiger: Wie es sie recyceln kann.
Doch diese Informationen seien heute nicht verfügbar, sagt Gerken. Die Optocycle-Technik macht Eberhard Fritz, der bei der Recyclingfirma Feeß für den Stoffstrom verantwortlich ist, das Leben leichter. Fritz sitzt mit am Tisch und erklärt, wie genau: „Optocycle hilft uns, unsere Stoffströme besser zu verstehen und effizienter zu verwerten.“ Auch bei der Dokumentation der Lieferungen und bei der Abrechnung mit den Lieferanten sei das eine große Hilfe. „So können wir optimal wiederverwerten“, sagt Fritz.
Die Technik haben sie ursprünglich für Supermarktkassen entwickelt
Sein Arbeitgeber, die Firma Feeß, ist der erste Kunde des Start-ups, das hier sein System erproben darf. Bei sieben anderen vorwiegend mittelständischen Recyclern hat Optocycle ebenfalls Kameras installiert. Bis Anfang 2025 soll das System so weit ausgereift sein, dass die Kunden es in den regulären Betrieb nehmen können. Bis dahin füttern die zehn Mitarbeitenden der Firma Optocycle am Tübinger Marktplatz die künstliche Intelligenz weiter mit Bildern von Bauschuttladungen, damit sie immer feiner zwischen den Materialien zu unterscheiden lernt.
Ein Problem: Das System kann nur die oberste Schicht der Lkw-Ladung analysieren. Was darunter liegt, bleibt ihm verborgen. Zukünftig sollen die Kameras deswegen nicht mehr nur auf Recyclinghöfen hängen, sondern auch schon auf der Baustelle oder über dem Förderband, über das der Bauschutt läuft. Denn wüsste man schon vor der Abfahrt am Abbruchort, was auf dem Laster ist, könnte der direkt zum passenden Recyclinghof fahren. Das würde Transporte reduzieren und Bauschutt besser in den Kreislauf bringen.
Noch in diesem Jahr testet Optocycle seine Technik beim Abrissprojekt der Bayernkaserne in München. Ein Drittel des Abbruchmaterials soll auf dem gleichen Gelände für den Neubau eines neuen Stadtteils wiederverwendet werden. Um das Material zu trennen und zu sortieren, wird die Optocycle-Technik zum Einsatz kommen.
Ihre Technik haben Gerken und sein Mitgründer Lars Wolff übrigens ursprünglich für Supermarktkassen entwickelt. Das System sollte dort erkennen, welche Gemüse- oder Obstsorte der Kassierer über die Kasse zieht. Daniel Imhäuser, Geschäftsführer des Frankfurter Recyclers Blasius Schuster, bekam zufällig von der Technik mit, erkannte ihr Potenzial fürs Bauschuttrecycling und wies die Gründer darauf hin. Also trainierten Gerken und Wolff ihr System fortan darauf, Bauschutt zu erkennen. Der Mustererkennung ist es letztendlich egal, ob es Gemüse oder Betonteile erkennen soll.
Allein 2021 wurden hierzulande laut Statistischem Bundesamt mehr als 14 000 größere Gebäude abgerissen. Der Bauschutt landet beim Verwerter. Dieser sortiert und entscheidet, ob das Material auf die Deponie muss oder recycelt werden kann. Doch der weiß bis heute nur sehr ungenau, was eigentlich bei ihm ankommt. Wenn sich da nichts tue, hatte Staatssekretär Baumann bei seinem Besuch bei Optocycle in Tübingen gesagt, würden die Deponien hierzulande bald volllaufen. Und dann, in Richtung der Gründer Gerken und Wolff: „Ich bin der Politiker, der sagt: Das ist mein Problem. Liebe Nerds, bitte löst es.“