Süddeutsche Zeitung

Baumärkte und Gartencenter:Gießen gegen die Krise

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Noch nie haben die Bundesbürger mehr fürs Heimwerken ausgegeben. Laut Rheingold-Institut hat das auch tiefenpsychologische Gründe. Doch jetzt ist die Branche sauer.

Von Michael Kläsgen

Der Aufenthalt im Baumarkt ist in Wahrheit gar nicht das, was man früher, offenbar benebelt von geistiger Schlichtheit, dachte: ein stinknormaler, oft von der normativen Kraft des Faktischen (Gummidichtung kaputt) getriebener Vorgang zum käuflichen Erwerb eines Gegenstandes. Gewiss, das Schicksal, auf der weiten Fläche einen Verkäufer zu finden oder nicht, bestimmte schon damals, vor Corona, über Glück oder Pech an diesem Tag. Aber wie das Rheingold-Institut nun im Auftrag des Handelsverbands Heimwerken, Bauen und Garten (BHB) erforscht hat, ist die Bedeutung der Baumärkte und Gartencenter damit nur unzureichend beschrieben.

"Die Baumärkte", sagt Diplom-Psychologe Stephan Grünewald, Gründer des Rheingold-Instituts, "dienen seelisch als Ausrüster, in denen sich die Menschen mit Werkzeug für alle Lebenslagen wappnen." Und zwar offenbar auch für die ganz bedrohlichen. "Was der Waffenhandel in Amerika ist", sagt der Bestsellerautor ("Wie tickt Deutschland?"), "ist der Baumarkt in Deutschland." Er diene dazu, "der Krise wirksam etwas entgegenzusetzen".

So gesehen haben sich die Bundesbürger bis an die Zähne bewaffnet, glücklicherweise aber nur mit Farbpinseln, Abdeckfarbe und Gießkannen. Wie wirkungsvoll das gegen die Krise half, muss jeder für sich entscheiden. In ihrer Gesamtheit jedenfalls deckten sich die Landsleute mit Zeugs aus Baumärkten und Gartencentern so ein wie nie zuvor. Sie gaben 2020 etwa 14 Prozent mehr fürs Heimwerken aus als im Vorjahr: gut 22 Milliarden Euro. BHB-Vorstandssprecher Franz-Peter Tepaß nennt das in einem bemerkenswert deprimierten Tonfall "relativ phänomenal".

"Noch geschäftstüchtig"

Deprimiert, weil der Pinselkauf immer auch Ausdruck des Kampfes gegen die "Ohnmachtserfahrung" in der Pandemie ist, wie Grünewald sagt. Das sei so wie mit dem Hamstern von Toilettenpapier. "Damit demonstriert der Käufer, dass er im wahrsten Sinne des Wortes noch geschäftstüchtig ist." Das Kölner Institut mit dem nibelungenhaften Namen bläst solche Erkenntnisse nicht einfach nur so raus, es hat dafür solides Datenmaterial gesammelt. Pro Jahr führt es 5000 tiefenpsychologische Interviews und analysiert sie, den "kulturpsychologischen Ansatz", das heißt die gesamtgesellschaftliche Lage, immer fest im Blick.

Dabei fand es heraus, dass der Garten in der Pandemie, so man denn einen hat, den Status eines "heilenden Refugiums" erklommen hat. Denn hier können die Menschen "gegen ihre Ohnmacht anpflanzen", und mehr noch: "Seelisch mit ihrer eigenen Verletzlichkeit und auch Sterblichkeit konfrontiert", sei der Garten ein Ort, in dem sich die Menschen mit diesem Naturprinzip auseinandersetzen und versöhnen könnten.

Wie die Blumen

Das Gartencenter ist also nicht nur ein profaner Kasten am Stadtrand, sondern gewissermaßen Quell spiritueller Erleuchtung. Oder wie Grünewald es ausdrückt: "Die Blume hat auch einen beschränkten Bewegungsradius, wächst und blüht aber und entwickelt sich auch." So gesehen sind wir irgendwie alle Blumen, die sich auch mal begießen müssen. Gut, im übertragenen Sinn, für die Gartenfachmärkte. Denn auch sie erfreuten sich eines "relativ phänomenalen" Umsatzzuwachses. 2020 wohlgemerkt. Aber 2021? Seit Anfang des Jahres haben alle (oder waren es nur viele?) Baumärkte und Gartencenter zu, so genau weiß das keiner mehr. Die Regierenden scheinen dem BHB die Überhöhung der Märkte nicht mehr abzukaufen, weshalb der Verband jetzt richtig sauer auf "die Politik" ist. Und Tiefenpsychologe Grünewald? Er ist für eine Öffnung der Märkte.

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