Süddeutsche Zeitung

Karte und App:Warum uns Norwegen beim bargeldlosen Bezahlen weit voraus ist

  • Nirgends in Europa zahlen die Menschen seltener mit Geldscheinen als in Norwegen.
  • Die Netzabdeckung ist in Nordeuropa deutlich leistungsfähiger als in Deutschland, die Lesegeräte für Kartenzahlung günstiger.
  • Doch die Deutschen hängen nicht nur wegen der schlechteren Infrastruktur am Bargeld: Für sie sind die Scheine ein Stück Sicherheit und Privatsphäre.

Von Felicitas Wilke, Oslo, und Markus Zydra, Frankfurt

Wann bei ihm zum letzten Mal jemand bar bezahlt hat? Wayne Linehan muss kurz nachdenken. "Heute Morgen", sagt er dann, gleich seine ersten beiden Kunden hätten "zufälligerweise" mit Münzen und Scheinen bezahlt. So etwas merkt er sich. Der gebürtige Brite Linehan verkauft Käse an einem Stand im Zentrum der norwegischen Hauptstadt Oslo. Er bekommt jeden Tag mit, dass es hier mittlerweile ziemlich exotisch ist, eine Rechnung bar zu begleichen. Die Norweger zahlten "wirklich alles" mit Kreditkarte - auch ein Stück Gouda für umgerechnet ein paar Euro. Es wäre geschäftsschädigend, wenn nicht auch an seinem kleinen Stand auf dem Wochenmarkt ein kleines Lesegerät für Bezahlkarten bereitliegen würde. "Wenn doch mal jemand bar bezahlt, sind es meist Ausländer wie wir", sagt er und lacht.

Nirgends in Europa nehmen die Menschen seltener Geldscheine in die Hand als in Norwegen. Nur elf Prozent aller Zahlungen tätigen sie in bar, das zeigen Zahlen der norwegischen Zentralbank. In Oslo, Bergen oder Trondheim können Kunden auch kleine Beträge beim Bäcker oder in der Kantine mit Karte bezahlen. Selbst die Türen zu öffentlichen Toiletten lassen sich zum Teil nur per Kreditkartenzahlung öffnen. Der obligate Teller mit Münzen im Eingangsbereich hat im Norden ausgedient. Auch in den Nachbarländern Schweden und Dänemark ist das Papiergeld auf dem Rückzug.

In Deutschland dagegen hängen viele Menschen am Bargeld. In Großstädten wie Frankfurt gibt es zahlreiche Restaurants, in denen nur Barzahlung möglich ist. Die meisten Kunden akzeptieren die Umstände, wie es scheint, denn sonst würde sich die Gastronomie wohl anpassen wie in Oslo und Stockholm, wo an den Eingangstüren zu den Lokalen steht: no cash. Der Wandel bei den Bezahlroutinen setzt sich in Deutschland nur langsam durch. Im vergangenen Jahr haben die Kartenzahlungen erstmals die Barzahlung ausgestochen, gemessen am Umsatz. Wie das Handelsinstitut EHI berechnete, stieg der Anteil der Kartenzahlungen auf 48,6 Prozent, der des Bargelds lag bei 48,3 Prozent. "Insbesondere Kleinbetragszahlungen bis fünf Euro werden weiterhin zu 96 Prozent und Ausgaben bis 50 Euro größtenteils in bar beglichen", notierte auch die Bundesbank in ihrer jüngsten Studie zum Zahlungsverhalten in Deutschland. Mit Blick auf die Zahl der Transaktionen sei Bargeld nach wie vor das am häufigsten genutzte Zahlungsinstrument.

Bargeld erleichtert Korruption und begünstigt den Schwarzmarkt

Die deutsche Zurückhaltung bei der Kartenzahlung hat viele Ursachen. Viele Bundesbürger haben Angst, ausgespäht zu werden. Die Furcht vor einem Missbrauch der Zahlungsinformationen durch Behörden ist vor allem bei Älteren ausgeprägt, nicht zuletzt jenen, die anlässlich der Volkszählung 1987 wegen der Abfrage persönlicher Informationen zum Boykott aufgerufen haben. Aber auch jüngere Deutsche verbinden mit dem Geldschein ein Stück Privatsphäre und Sicherheit. Elektronisches Geld lässt sich nachverfolgen, Bargeld nicht.

Die Menschen in Skandinavien sind in dieser Hinsicht pragmatischer. Sie nehmen technischen Fortschritt eher an und reiben sich weniger an Datenschutzproblemen. Schon in den 1990er-Jahren entstand dort mit den Firmen Ericsson und Nokia als Treiber in rasantem Tempo ein großer Mobilfunkmarkt. Die Handy-Kultur ist im Norden viel reifer, was auch die Akzeptanz des mobilen Bezahlens gestärkt hat. Dazu kommt: In den dünn besiedelten Gebieten Lapplands ist die Bargeldversorgung durch die Notenbanken inzwischen sehr ausgedünnt worden. Die Bürger sind faktisch auf Kartenzahlung angewiesen. Schon lange kann man sogar in Kirchen bargeldlos seinen Obolus entrichten, in Großstädten sieht man Bettler und Straßenkünstler, die Karte nehmen. Die Lesegeräte sind entsprechend günstig, die Netzabdeckung, sprich die Infrastruktur, ist in Nordeuropa deutlich leistungsfähiger als in Deutschland.

"Die Norweger haben ein großes Vertrauen in politische und wirtschaftliche Institutionen. Sie glauben, dass eine bargeldlose Gesellschaft die Geldwäsche, die Korruption und den Schwarzmarkt besser bekämpfen kann. Vor allem aber finden sie es einfach bequemer", sagt Tor W. Andreassen, Professor an der Norwegian School of Economics in Bergen.

In Norwegen verschwindet das Bargeld aber nicht nur aus den Läden und Restaurants. Auch wenn Geld von privat zu privat (P2P) übergeben wird, greifen die Norweger nur etwa jedes siebte Mal zu Bargeld. In Deutschland sammelt man Scheine für den runden Geburtstag der Kollegin und kramt Münzen zusammen, um die Rechnung beim Italiener mit dem Partner zu splitten - in Norwegen wird "gevippst". Von gut 5,3 Millionen Bürgern haben 3,2 Millionen die Vipps-App für das mobile Bezahlen auf ihr Smartphone geladen.

Seit 2015 kann man via Vipps auch überall dort bargeldlos bezahlen, wo keine Kartenlesegeräte vorhanden sind. Auf dem Flohmarkt zum Beispiel, oder in der Kirche: Wer im Dom von Oslo eine Kerze für seine Lieben anzünden möchte, zahlt die zehn Kronen (umgerechnet ein Euro) nicht per Münze, sondern schickt über Vipps eine Nachricht mit dem Betrag an die Nummer #81460. Das Gleiche funktioniert mit Handynummern von Freunden, denn über die Anwendung ist jede Telefonnummer mit einer Bankverbindung verknüpft.

"Norweger lieben Technologien. Wenn sie uns zur Verfügung stehen, dann nutzen wir sie auch", sagt Berit Svendsen. Sie ist bei Vipps nicht nur für die Expansion in neue Märkte verantwortlich, sondern auch eine der bekanntesten Managerinnen Norwegens. Jahrelang leitete sie das Norwegen-Geschäft beim Telekommunikationskonzern Telenor, bevor sie das Unternehmen nach einem Machtkampf verließ. Dass sie danach ausgerechnet bei einem Start-up wie Vipps neu anfing, sagt viel aus über die Bedeutung der bargeldlosen Technologie in dem skandinavischen Land. Die DNB, Norwegens größte Bank, entwickelte Vipps, doch inzwischen können die Kunden von mehr als 100 regionalen und überregionalen Banken die App nutzen. "Nur so erreicht man die Menschen", sagt Svendsen.

In Deutschland versuchen zwar einige Marktteilnehmer, die P2P-Überweisung per Smartphone zu etablieren. Doch der Markt ist zersplittert: Mehrere Banken und Start-ups haben ihre eigenen Anwendungen entwickelt. Mit 1,4 Millionen Nutzern am weitesten verbreitet ist der Dienst Kwitt, den die Sparkassen initiiert haben und der mittlerweile mit der App der Volks- und Raiffeisenbanken zusammengeführt wurde. Wer sein Konto bei einer dritten Bank hat, kann allerdings weiterhin lediglich Geld und Zahlungsanforderungen empfangen, nicht aber selbst die App nutzen und Beträge versenden. "Die Deutsche Kreditwirtschaft hat es bislang versäumt, den Kunden ein gemeinsames Angebot zu machen", sagt Oliver Hommel, Experte für Zahlungsverkehr bei der Beratung Accenture. Doch selbst wenn es eine App für alle gäbe, wäre der Anteil der Nutzer nicht so hoch wie in Norwegen, glaubt Hommel: "Die Mentalität in Deutschland ist einfach anders."

Allerdings ist auch im hohen Norden nicht jeder beseelt von der Vorstellung, nur noch mit Karte oder Handy zu bezahlen. Hans Christian Færden trinkt eine heiße Schokolade in einer Hotelbar unweit des Parlaments, die Rechnung begleicht er mit einem grünen 50-Kronen-Schein. "Es geht darum, dass wir die Wahl haben müssen. Wir brauchen ein anonymes Zahlungsmittel", sagt Færden. Er hat vor fünf Jahren die Facebookgruppe "Ja til kontanter", übersetzt heißt das: "Ja zum Bargeld", gegründet. Knapp 40 000 Mitglieder hat die Gruppe heute. Unter dem gleichen Namen hat Færden eine Organisation gegründet, die Lobbyarbeit für den Einsatz von Bargeld betreibt.

In ganz Norwegen gibt es nur noch 1500 Geldautomaten

Der ruhige und freundliche Mann redet schneller und lauter, wenn er beschreibt, was aus seiner Sicht beim Bezahlen schiefläuft. Muss man beim Arzt zahlen, funktioniere das bei vielen nur noch mit Karte, sagt er. "Also weiß die Bank von jedem, dass er dort war." Auch viele Geschäfte verweigern Bares, immer wieder weisen Hotelrezeption oder Barkeeper in Oslo darauf hin, bargeldlos zu sein. "Das ist gegen das Gesetz", sagt Færden. Tatsächlich ist Bargeld in Norwegen noch immer ein offizielles Zahlungsmittel, das Händler, Hoteliers oder Gastronomen eigentlich annehmen müssen. Doch einige ignorieren die Regelung.

Die Banken, findet Færden, täten ihr Übriges, um den Menschen das Bargeld madig zu machen. Die Zahl der Geldautomaten ist rückläufig: Im ganzen Land, flächenmäßig größer als Deutschland, standen im Jahr 2017 nur noch gut 1500 Ausgabeautomaten. In Deutschland waren es 40-mal so viele. Auch bei ihrer eigenen Bank müssen die Norweger inzwischen eine Gebühr zahlen, wenn sie Geld abheben wollen. Bei Færdens Bank ist es umgerechnet ein Euro pro Abhebung. "Es darf nicht sein, dass man Geld zahlen muss, um an sein Geld zu kommen", sagt Færden.

Unterstützt wird sein Vorhaben im Parlament von der Zentrumspartei, die den Landwirten nahesteht und sich vor allem für Dezentralisierung einsetzt. In dieser Woche hat die Partei einen Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht, wonach Händler stärker bestraft werden sollen, wenn sie kein Bargeld annehmen.

Es werde in Norwegen weiterhin Bargeld geben, sagt Tor W. Andreassen, der Wirtschaftsprofessor. "Allein schon für den Notfall, zum Beispiel, falls der Strom ausfällt." Dennoch geht er davon aus, dass sich das bargeldlose Bezahlen weiter durchsetzen werde. Das beunruhigt ihn als Ökonom nicht wirklich, als Vater schon eher. "Ich erinnere mich noch gut an das Geräusch, wenn ich als Kind Münzen in mein Sparschwein geworfen habe." Dieses Gespür für Geld und dessen Wert erhielten Kinder nicht im gleichen Maße, wenn es für sie von klein an nicht physisch greifbar sei. "Ich sehe die Gefahr, dass die jungen Menschen dadurch nicht mehr lernen, mit Geld umzugehen", sagt Andreassen.

Vipps versucht darauf zu reagieren. Das Unternehmen hat eine Anwendung entwickelt, mit der Kinder unter 15 Jahren mit dem Einverständnis ihrer Eltern Geld verschicken oder auch nur empfangen können. Managerin Berit Svendsen glaubt, dass ihr Dienst die Zukunft ist. Nicht nur in Norwegen. Schon bald möchte sie die App als Vipps oder unter einem anderen Namen in andere Länder bringen. In welche, das will sie noch nicht verraten. "Was Deutschland braucht, ist ein weiter verbreiteter Bezahldienst", sagt sie. "Entweder beginnen die Banken zu kooperieren oder es kommen andere Anbieter, die den ganzen Markt übernehmen." Berit Svendsen lächelt. Man kann das als Kampfansage werten.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2019/vwu
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