Herman Van Rompuy hörte gut zu, "wie immer", berichtete ein Teilnehmer der Sitzung. Auf dem Treffen hinter verschlossenen Türen gab Charles Dallara dem Europäischen Ratspräsidenten und Gipfel-Leiter zu verstehen, was die Banken wollen: ihre Verluste im Geschäft mit griechischen Staatsanleihen so gering wie möglich halten. Es ging um "die Beteiligung des privaten Sektors, Schuldenschnitte und Banken-Rekapitalisierung". Dallara ist Geschäftsführer des Institute for International Finance (IIF). Hinter dem akademisch klingenden Titel verbirgt sich die globale Lobbyorganisation der Finanz- und Bankenbranche.
Wenige Tage vor dem EU-Krisentreffen am vergangenen Wochenende nutzte sie ihren exklusiven Zugang zu den Entscheidungsträgern. Nicht jeder kann Van Rompuy in einer so entscheidenden Woche ins Gewissen reden. Zum Gipfel selbst kam Dallara mit Josef Ackermann, dem scheidenden Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank und Sprecher des IIF.
Dallara gibt den "bösen Cop" in den Verhandlungen mit den Politikern. Während Michael Kemmer, Chef des Bundesverbandes deutscher Banken, sich offen für einen "angemessenen Schuldenschnitt" zeigt, sagt Dallara: "Ein Deal ist ein Deal." Er meint: Die Banken verzichten auf 21 Prozent des Werts ihrer griechischen Staatsanleihen, so wie es beim EU-Gipfel im Juli ausgehandelt wurde. Schon damals nahm Ackermann am Gipfel teil - dass Banken nicht mehr Geld verlieren sollten, gilt auch als sein Erfolg. Mit Dallara will er nun die Verluste seiner Branche möglichst niedrig halten. Die beiden wollen auch einen sofortigen Schuldenschnitt verhindern und stattdessen erst nach und nach auf Forderungen verzichten.
Die Finanzindustrie kämpft zurzeit an mehreren Fronten um ihre Freiheit. Eine Freiheit, die viele Politiker, Verbraucherschützer und Bürger als Gefahr für die Gesellschaft sehen: Immer lauter werden die Rufe, Banken und Hedge-Fonds stärker zu regulieren. Richtig aktiv wurde die EU erst unter dem französischen Binnenmarktkommissar Michel Barnier - nach den Verwerfungen der Finanzkrise und Vorwürfen, durch Spekulation die Schuldenkrise zu verschärfen. Auch viele Bürger empören sich über die "Macht der Banken", das hat die weltweite "Occupy"-Bewegung in den vergangenen Wochen gezeigt. Aber wie üben Großbanken eigentlich Einfluss aus? Und worum geht es ihnen?
Sie möchten ungehindert Geschäfte machen. Ihr wichtigstes Argument: Starke Regulierung gefährdet Wohlstand. Europa falle im globalen Wettbewerb zurück. Die Drohung abzuwandern, ist ein wirkungsvolles Druckmittel. Denn Schritte zur Regulierung sind sinnlos, wenn sie nur ein Land betreffen. Auch deshalb verläuft ein Riss durch die EU: Großbritannien ist wirtschaftlich besonders abhängig von der Finanzbranche. Für den Fall staatlicher Eingriffe droht sie, das Land zu verlassen. In Deutschland sind die Zeiten der Deregulierung hingegen vorbei. Rot-Grün erleichterte es Banken, verbriefte Wertpapiere zu basteln - jene komplexen Finanzprodukte, die maßgeblich zur Finanzkrise 2008 beitragen sollten. Auch die folgende große Koalition liberalisierte die Finanzmärkte weiter. Heute gibt Finanzminister Wolfgang Schäuble den Gegenspieler der Lobby. Deutschland ist mittlerweile treibende Kraft hinter Versuchen, Spekulation einzudämmen. So dürfte das deutsche Verbot nackter Leerverkäufe bald auf ganz Europa übertragen werden.
Die wichtigsten Schlachtfelder im Regulierungskrieg:
[] Verbot nackter Leerverkäufe Auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise im August, als die Angst um die in Griechenland engagierten Banken die Börsen ohnehin schon auf Talfahrt schickte, verboten mehrere Staaten Leerverkäufe. Bei dieser umstrittenen Form des Handels leihen Spekulanten sich Aktien und verkaufen sie dann weiter. Dabei setzen sie auf einen sinkenden Kurs. Geht ihre Wette auf, können sie später die Papiere günstiger wieder kaufen, dem Verleiher zurückgeben und Gewinn machen. Leerverkäufe sind nicht an und für sich gefährlich. Sie können Anlegern dazu dienen, sich gegen Verluste abzusichern - sogenanntes Hedging. Grundsätzlich befürwortet auch die EU-Kommission Leerverkäufe: Sie seien hilfreich, um den tatsächlichen Preis eines überbewerteten Papieres zu ermitteln und minderten die Gefahr von Preisblasen. Nackte - also ungedeckte - Leerverkäufe auf Aktien und Staatsanleihen will die Kommission dennoch verbieten. Diese ungedeckten Deals dienen praktisch ausschließlich der Spekulation - der Leerverkäufer verkauft ein Papier, das er sich nicht einmal geliehen hat. So können Kurse gezielt nach unten getrieben werden.
[] Verbot nackter CDS Das beliebteste Bild der Kritiker ist das einer Brandschutzversicherung auf das Haus des Nachbarn: Wer eine habe, entwickle dadurch auch ein Interesse, das Haus des anderen anzuzünden, damit die Versicherung fällig werde. Wer nackte Kreditausfallsversicherungen (CDS) abschließt, versichert Schulden, die er gar nicht besitzt. Im Falle Griechenlands hätte der Besitzer eines nackten CDS also ein Interesse daran, dass das Land zahlungsunfähig wird. Das halten Gegner für blanke Finanzspekulation, die das Vertrauen der Investoren in das Land noch weiter senke. Die EU will nun ungedeckte CDS auf Staatsschulden verbieten. Wie bei den nackten Leerverkäufen setzt sich vor allem Deutschland für eine Regulierung ein. Wenig überraschend ist Großbritannien, Lieblingsland der Lobby in Europa, strikt dagegen. Aima, eine Lobbygruppe der Hedge-Fonds, intervenierte und verwässerte mit anderen Organisationen den EU-Entwurf, sagt Joost Mulder. Mulder war selbst Lobbyist für diverse Großbanken in Brüssel, bis er in diesem Jahr die Seiten wechselte. Er arbeitet für Finance Watch, die Organisation, die sich für eine bessere Regulierung des Finanzmarktes durch die EU stark macht. CDS dürfen nach wie vor abgeschlossen werden, wenn der Kauf "in Beziehung" zu den Schulden eines Staates steht. Diese vage Formulierung führe beispielsweise dazu, dass jeder Hedge-Fonds gegen polnische Staatsanleihen wetten könnte, sobald er in irgendein Einkaufszentrum im Land investiert hat, sagt Mulder.
[] Basel III Die neuen Regeln zum Kernkapital sollen Banken stabiler für die nächste Krise machen. Finanzaufseher und Notenbankchefs haben sie 2010 beschlossen, 2012 sollen sie in EU-Recht umgesetzt werden. Zentraler Punkt ist die Steigerung der harten Kernkapitalquote von vier auf sieben Prozent - also des Geldes, mit dem Banken nicht spekulieren können und das ihnen als Risikopuffer dienen soll. Für die Banker bedeutet jedes zusätzliche Prozent Eigenkapital, das sie halten müssen, ein Prozent weniger, mit dem sie wirklich Geld verdienen können. In diesem Herbst hat sich Jamie Dimon, Alpha-Tier an der Spitze der Großbank JP Morgan, an die Spitze des Kreuzzugs gegen Basel III gestellt. Er brandmarkt vor allem einen Aufschlag, den die ganz großen Banken wie JP Morgan an Eigenkapital halten sollen. Weil sie als systemrelevant gelten, sollen sie zusätzlich zu den sieben Prozent nochmal 2,5 Prozent Kernkapitalquote zurückhalten, damit sie Krisen ohne Staatsgeld überstehen können. Während des Treffens des Internationalen Währungsfonds zeigte Dimon, wie ernst es ihm ist: Er brüllte Mark Carney zusammen, der immerhin Chef der Nationalbank Kanadas ist. Carney verließ empört das Meeting. Goldman Sachs-Chef Lloyd Blankfein, selbst als nicht gerade zimperlich bekannt, musste Carney angeblich eine E-Mail schreiben, um die Wogen zu glätten. Beeindrucken ließ sich der Kanadier nicht: Zwei Tage später spielte er in seiner Rede auf Dimons Attacke an: Manche Leute, so Carney, behaupteten, "Pfadfinder zu sein und bezichtigen andere als Halbstarke".
[] Finanztransaktionssteuer Seit Jahren ist sie der Traum derer, die die Macht von Spekulanten einschränken wollen. Mit einer minimalen Steuer auf jeden Verkauf an den Finanzmärkten soll die reine Zockerei eingedämmt werden. Die EU-Kommission will damit jedes Jahr mehr als 50 Milliarden Euro einnehmen. Laut Plan sollen mindestens 0,1 Prozent auf jeden Aktiendeal und 0,01 Prozent auf Derivate fällig werden. Allerdings bestehen wenig Chancen auf Einführung der Steuer. Die EU-Länderchefs müssen sich einstimmig dafür entscheiden, also müssen die Lobbyisten nur ihren treuesten Verbündeten bearbeiten: Großbritanniens Finanzminister George Osborne. Um ihn an seine Loyalitäten zu erinnern, schrieb ihm die Finanzlobby des Landes am Montag einen Brief: Eine solche Steuer würde nicht nur zur Abwanderung der Finanzindustrie führen, hieß es darin. In jedem Land könnte es zu Verwerfungen kommen: Einbrüche im Bruttoinlandsprodukt, höhere Hypotheken und weniger Rente für die Bürger. Mulder sagt dazu: "So killt man eine neue Steuer."
Direkten Einfluss auf Entscheidungen nachzuweisen ist immer schwierig. Außerdem ist Lobbyarbeit nicht verboten, im Gegenteil: Zu einer pluralistischen System gehört das Recht jeder gesellschaftlichen Gruppe, sich bei Politikern Gehör zu verschaffen. Aber dass der Zugang zur Macht für die Finanzbranche ein bisschen breiter ist, wird nicht nur deutlich, wenn Ackermann im Kanzleramt zu Abend isst.
Die Banken nehmen Einfluss auf die politischen Entscheidungprozesse aber nicht erst, wenn die Minister sich einigen müssen. So lässt sich die EU-Kommission bei der Bankenregulierung von einer Expertengruppe beraten. Ein Blick auf die Mitgliederliste dürfte ambitionierten BWL-Studenten das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Sie liest sich wie ein Who is Who der Arbeitgeber, bei denen Prestige und astronomische Gehälter winken. Ob Goldman Sachs, McKinsey, PriceWaterhouseCoopers: Von 42 Mitgliedern der Expertengruppe kommen 37 aus dem Finanzsektor. Verbraucherverbände und Ökonomie-Professoren teilen sich die restlichen fünf Plätze.
Weil die Finanzfirmen jegliche Regulierung ablehnen, setzen sie oft auf Blockadetaktik, sagt Lobby-Watcher Mulder: "Das beste aus der Sicht des Bankenlobbyisten ist, wenn es gar kein Gesetz gibt." Schaffen sie es nicht, die Vorhaben im Keim zu ersticken, beginnen EU-Beamte, die Gesetzesvorlagen auszuarbeiten. Dabei werden sie ununterbrochen von Branchenlobbyisten bearbeitet. "Die Beamten sind nicht korrupt. Aber wenn sie monatelang nur den Industrieleuten zuhören, fangen sie an, wie die zu denken." Verbraucher- und Anlegerschützer haben schlicht nicht die Mittel, rund um die Uhr in Brüssel ihre Interessen durchzusetzen. Dagegen hätten Wall-Street-Banken und sogar Steuerparadiese wie die Cayman-Islands Profis unter Vertrag, die sie notfalls binnen kürzester Zeit in Brüssel einfliegen lassen könnten, um eine für sie unpassende Regelung zu verhindern.
Da vor allem die EU über die Regulierung der Finanzmärkte entscheidet, zielt die Arbeit der Lobby auch auf EU-Parlamentarier. Wer in den Wirtschafts- und Finanzausschüssen sitzt, wird mit E-Mails und Briefen bombardiert, die im Sinne der Branche verfasst sind. Dem CDU-Abgeordneten Burkhard Balz folgten laut Financial Times Deutschland Branchenleute sogar bis nach Hause. Manche Abgeordnete übernehmen die Vorlagen der Lobby wortwörtlich in Gesetzesentwürfe. Ein Beitrag der WDR-Sendung Monitor vom August konfrontierte deutsche Abgeordnete mit dem Verdacht, einfach abgeschrieben zu haben. Die Ausreden wirken unfreiwillig komisch: CSU-Mann Markus Ferber entgegnet gar, die Lobby habe von ihm abgeschrieben.
Diese Copy-&-Paste-Gesetzgebung bedeutet aber nicht unbedingt, dass die Abgeordneten der Lobby hörig sind: Viele sind sich bei hochkomplexen Finanzthemen einfach unsicher. Deshalb greifen sie dankbar auf die scheinbar kundigen Texte der Bankenbranche zurück - obwohl sie wissen, dass diese nicht nur Experten, sondern eben auch Lobbyisten sind.
Aller Einflussnahme zum Trotz: Kurz vor dem Gipfel zeichnet sich nun ab, dass der IIF trotz Dallaras markiger Worte dem Druck der Politik nachgeben und einem höheren Schuldenschnitt zustimmen wird. Die Lobby bietet an, nun doch in der sogenannten freiwilligen Lösung statt nur auf 21 auf 40 oder mehr Prozent der Forderungen zu verzichten. Die Finanzbranche ist mächtig, aber eben nicht allmächtig.