Es ist den Menschen nicht immer gegeben, aus Schaden klug zu werden. Das gilt auch für Entscheidungsträger in Banken. In den ersten Jahren nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008, die der Bankensektor maßgeblich zu verantworten hatte, gab sich die Finanzlobby noch reumütig. Immerhin mussten Steuerzahler die Banken retten. Doch diese Selbstkritik ist längst einer gewissen Larmoyanz gewichen: Die Regeln, die eine Wiederholung der „Finanzkernschmelze“ verhindern sollen, sind aus ihrer Sicht inzwischen wieder viel zu streng.
Die Lobbyisten haben ganze Arbeit geleistet. Die unter dem Begriff „Basel 3“ firmierenden strengeren Kapitalregeln für den Bankensektor sind in der EU teilweise auf Januar 2026 verschoben worden. Der Hauptgrund: Die Banken machten Wettbewerbsnachteile gegenüber den USA geltend. Es ist ein Muster, das sich stets wiederholt. Kaum ein Branchentreffen vergeht, bei dem dieser angebliche Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA nicht thematisiert wird, auch unter Verweis auf eine Studie der Beratungsgesellschaft Oliver Wyman, die vom Europäischen Bankenverband in Auftrag gegeben wurde. Die Botschaft: Europas Banken müssten höhere Kapitalanforderungen erfüllen als die Konkurrenz in den USA. Dieser Nachteil führe sogar zu höheren Kosten für Kredite an Unternehmen und Haushalte; Wohnungsbau und Wachstum würden gebremst. Auch Politiker greifen das Argument immer wieder auf, um für Europas Banken in die Bresche zu springen.
Aber stimmt die These? Abgesehen davon, dass zumindest Volksbanken und Sparkassen nur in wenigen Bereichen wirklich mit Wall-Street-Häusern konkurrieren dürften: Müssen sich Europas Banken tatsächlich besonders strengen Regeln unterwerfen? Die EZB-Bankenaufsichtsbehörde hat die entscheidende Frage unlängst untersucht und kam offenbar zu einem ganz anderen Schluss, nämlich, „dass die Anforderungen für europäische global systemrelevante Banken unter dem US-Rahmenwerk strenger wären“, wie es EZB-Bankenaufsichtschefin Claudia Buch gerade in einer Rede sagte. Sie verwies dabei auf eine interne Analyse, die noch ihr Vorgänger Andrea Enria Ende 2023 in die Wege geleitet hatte.
Allerdings hat die EZB den Bericht bislang nicht veröffentlicht. Man müsse ihn erst überarbeiten, sagte ein Sprecher. Laut einem Bericht der Financial Times gab es darüber anscheinend einen Streit in der Bankenaufsicht. Einige Verantwortliche hätten die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse gefordert, konnten sich damit aber offenbar nicht durchsetzen. Die Studie zeige jedenfalls, dass die Kapitalanforderungen für große EU-Banken sogar um einen zweistelligen Prozentsatz steigen würden, wenn sie denselben Regeln wie große Wall-Street-Rivalen unterlägen, so die FT und nannte den Bericht daher „brisant“.
Lobbyisten profitieren davon, dass die Regeln sehr komplex sind
Bei den Bankenverbänden sieht man das naturgemäß anders. Da die Studie der EZB nicht öffentlich sei, könne man inhaltlich leider nicht darauf eingehen, heißt es vom Bundesverband deutscher Banken (BdB). Das europäische System sei aber wesentlich komplexer als das US-amerikanische und bestehe aus viel mehr Einzelteilen. Tatsächlich profitieren Lobbyisten von der Komplexität der Regeln – und sie nutzen das Wirrwarr. „Die gewiefte Taktik, bei ihrer Lobbyarbeit den Finanzplatz Europa und USA gegeneinander auszuspielen, funktioniert für die Bankenbranche schon lange, auf beiden Seiten des Atlantiks“, sagt der Ökonom Martin Hellwig, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut in Bonn und ehemaliger Vorsitzender der Monopolkommission. Beim Eigenkapital seien die Amerikaner traditionell strikter als die Europäer, bei den Verschuldungsgrenzen lägen die USA allerdings deutlich unter den europäischen. „Aber darüber sprechen die hiesigen Banken nicht – und die Politiker auch nicht“, sagt Hellwig.
Der Ökonom fordert seit vielen Jahren, dass sich Banken sehr viel weniger verschulden sollten als bislang. Die Reformen seit 2008 seien „jämmerlich unzureichend“, schrieb Hellwig bereits 2013. Stattdessen seien Regulierungsansätze fortgeführt worden, die bereits in der letzten Krise versagt hätten.
Ausgerechnet die Schweizer, wo die Regulierung lange als besonders streng galt, bekamen das erst letztes Jahr zu spüren: Dort musste die Großbank Credit Suisse Anfang 2023 von dem größeren Konkurrenten UBS übernommen werden, um die Pleite abzuwenden. Wie jetzt ein Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) zum Hergang des Credit-Suisse-Debakels ergab, konnte die Credit Suisse lange mit eklatanten Kapitallücken operieren – auch dank des Einsatzes der Finanzlobby. In den USA wiederum befreite die erste Trump-Regierung 2018 die mittelgroßen US-Regionalbanken von vielen als bürokratisch empfundenen Regeln. Dieses Laissez-faire ging nur wenige Jahre gut. Die Zinswende erwischte einige große Regionalbanken auf dem falschen Fuß, allen voran die Silicon Valley Bank (SVB). Ihr Zusammenbruch löste 2023 die regionale US-Bankenkrise aus.
Dabei stand die Welt lange unter dem Schock der globalen Finanzkrise, als sich 2010 die Staats- und Regierungschefs der führenden Wirtschaftsmächte (G 20) bei ihrem Gipfeltreffen im südkoreanischen Seoul darauf einigten, die Regeln für Banken zu verschärfen. So entstand in jahrelanger Arbeit das Regelwerk Basel 3. Das Paket geht auf die Empfehlungen des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht zurück. Das Gremium mit Experten aus 28 Ländern hatte 2017 ein Reformpaket für den internationalen Bankensektor beschlossen, das die Erfahrungen aus der globalen Finanzkrise einbrachte. Banken sollen fortan im Vergleich zu ihrem gesamten Kreditgeschäft mehr Verlustpuffer vorhalten. Die Regeln müssen Banken allerdings erst im Jahr 2032 vollständig umgesetzt haben. Trotz dieser langen Übergangszeit kämpft der Finanzsektor vehement gegen die Umsetzung des Sicherheitskorsetts.
Mit Trump könnte sich wieder alles ändern
Gleichzeitig haben sich die Vorzeichen seit der Wahl von Donald Trump auch in den USA wieder völlig geändert. Bereits Anfang 2024 hatte die US-Notenbank Fed strengere Kapitalregeln für große Banken teilweise wieder zurückgenommen, nachdem Branche und Politiker auch dort massiv opponiert hatten – gegen das, was sie „Basel Endgame“ nennen. Nun könnte es sein, dass die regulierungsfeindliche Trump-Regierung die Basel-Regeln tatsächlich völlig ignorieren wird und sich auf ein eigenes Rahmenwerk stützt. Sollte dies viel laxer sein, würden es Europas Banken auch für sich einfordern. Es wäre das „Endgame“ für das „Basel Endgame“ und vielleicht die Basis für die nächste Finanzkrise.