Wer herausfinden will, wie vorausschauend in diesen Tagen deutsche Verkehrspolitik betrieben wird, der muss eigentlich nur in den Zug steigen. Volle Bahnsteige, volle ICEs: Die Reiselust der Deutschen ist nach mehr als zwei Jahren Zurückhaltung in der Corona-Pandemie kaum zu bremsen. Wenige Reisende werden sich allerdings vorstellen können, wie bald doppelt so viele Menschen zur gleichen Zeit durchs Land fahren sollen. Schon jetzt finden viele nur auf dem Fußboden Platz. Schon jetzt stößt das marode Bahnnetz an seine Grenzen.
Doch schon in acht Jahren sollen nach Plänen der Bundesregierung tatsächlich 260 Millionen Menschen jährlich in die deutschen Fernverkehrszüge steigen. Noch vor der Pandemie waren es gerade mal halb so viele. Es ist ein großer Plan mit einem wichtigen Ziel: mehr Klimaschutz. Nur wenn es gelingt, Millionen Autofahrer zum Umstieg auf die Bahn zu bewegen, kann die Bundesregierung ihre Klimaziele erreichen. Und die sind nicht mehr verhandelbar. Sie stehen im Gesetz.
Von der Verkehrswende ist nichts zu sehen
Man sollte meinen, dass nun also überall im Land die Bauarbeiten für neue und schnellere Trassen beginnen, die Digitalisierung der Bahn rasant beschleunigt wird und Züge der Zukunft so langsam eingeführt werden. Man könnte erwarten, dass weitsichtige Politik jetzt deutlich mehr Geld für Infrastrukturprojekte zur Verfügung stellt, um sie Ende des Jahrzehnts pünktlich einzuweihen. Denn die brauchen ihre Zeit. Die Schnelltrasse von München nach Berlin etwa war erst nach 16 Jahren fertig.
Doch der Blick aus dem Zugfenster täuscht nicht. Der große Aufbruch für den Ausbau der Bahn ist nicht in Sicht. Obwohl die neue Ampelregierung eigentlich ganz anderes beschlossen hatte. Die Bahn sollte laut Koalitionsvertrag schnell zum "Rückgrat der Mobilität werden - auch im ländlichen Raum". Angesichts der angespannten Haushaltslage aber gerät das Vorhaben aufs Abstellgleis. Nach Plänen von Bundesverkehrsminister Volker Wissing und Finanzminister Christian Lindner (beide FDP) soll die Bahn in den kommenden Jahren kaum mehr Geld für den eigenen Ausbau bekommen.
Selbst die eigenen Beamten sind fassungslos
Experten schlagen deshalb zu Recht Alarm. In fassungslosen Vermerken notieren selbst Beamte Wissings, dass die eigenen Klima- und Passagierziele wohl verfehlt und planungsreife Großprojekte deshalb verschoben werden müssten. Auf der Strecke bleiben könnte nicht nur der Ausbau der wichtigen Verkehrsknoten Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, Mannheim und München. Auch der Deutschlandtakt, der künftig eine Halbstundenfrequenz auf den wichtigsten Fernverkehrsrouten der Bundesrepublik ermöglichen soll, steht zur Disposition. Nötig wären in den nächsten Jahren bis zu sechs Milliarden Euro für neue Bahnprojekte im Jahr. Fließen werden aber vorerst nur nur gut zwei.
Mit einem Sparkurs aber kann die Verkehrswende nicht gelingen. Denn die Deutsche Bahn ist großer Hoffnungsträger und Sanierungsfall zugleich. Noch immer leidet sie darunter, dass sie über Jahre als Aktiengesellschaft geführt und auf Effizienz getrimmt wurde. Nah- und Fernverkehr sollten die öffentliche Hand so wenig wie möglich belasten. Für Schienen, Zugflotte und manchen Bahnhof wurde nur das Nötigste getan. Die Folge: Es fehlt an Ressourcen im Netz, bei der Zugflotte und auch bei den eigenen Mitarbeitern, um wirklich schnell etwas zu verändern - und die Pläne der Politik auch umzusetzen.
Der Fahrplan für die Verkehrswende droht damit endgültig aus dem Takt zu geraten. Der Aufbruch in eine neue Verkehrspolitik könnte schon zum Start scheitern. Das System Bahn zeigt schließlich, was bei solchen Verspätungen passiert. Anschlüsse werden verpasst, Nachfolgezüge kommen nicht voran. Aufzuholen sind große Verspätungen bei der Bahn eigentlich nie.