Es ist nun beinahe zwei Jahre her, dass Deutschland für einen Tag nahezu stillstand. Am 27. März 2023 stellte die Bahn den Fernverkehr ein, in sieben Bundesländern fuhren kaum Busse und Regionalzüge, Tausende Flugzeuge blieben am Boden. Die Bahngewerkschaft EVG und Verdi hatten Tausende Arbeitnehmer aus dem Verkehrssektor zum Ausstand aufgerufen; es wurde einer der wirkungsvollsten Streiktage der vergangenen Jahre.
Ein solches Szenario wäre nun wieder möglich, denn die beiden Gewerkschaften verhandeln in diesem Frühjahr wieder parallel – die EVG für 192 000 Bahn-Mitarbeiter, Verdi für 2,5 Millionen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der große Verkehrsstreik von 2023 wiederholt, ist jetzt aber gesunken, darauf deuten zumindest die Zeichen aus der Tarifrunde bei der Deutschen Bahn hin; EVG und Konzernvertreter trafen sich an diesem Montag zu ersten Gesprächen.
Die EVG will mehr Lohn und mehr freie Tage
Die Bahn machte der Gewerkschaft gleich zu Beginn ein Angebot, es soll den Willen zu einer schnellen Einigung unterstreichen. „Wir wollen gleich einen guten und konstruktiven Start in die Verhandlungen hinlegen“, betonte Bahn-Personalvorstand Martin Seiler, der die Gespräche für den Konzern führt. Der Konzern will den Beschäftigten 4 Prozent mehr Lohn zahlen, für Schichtarbeiterinnen und -arbeiter soll ein Zusatzgeld von 2,6 Prozent hinzukommen; zugleich dringt die Bahn auf eine lange Laufzeit von 37 Monaten. Bei der kriselnden Tochter DB Cargo fordert die Bahn die Möglichkeit, vom Tarifvertrag abzuweichen.
Mit dem Angebot wird sich die EVG noch nicht zufriedengeben, sie verlangt 7,6 Prozent mehr Lohn, plus das Zusatzgeld für Schichtarbeiter, zu dem sich die Bahn nun bereit erklärt hat. Den Schichtarbeitern – das sind etwa die Hälfte der 192 000 Beschäftigten, für die die EVG-Tarifverträge gelten – soll nach dem Willen der Gewerkschaft ermöglicht werden, das Zusatzgeld in bis zu drei zusätzliche freie Tage umzuwandeln. Über diese Option will die Bahn aber erst ab 2028 reden.
Die Forderung enthält auch eine Bonuszahlung von 500 Euro, die nur an EVG-Mitglieder ausgezahlt werden soll. Das soll den Beschäftigten einen Anreiz geben, Mitglied der Gewerkschaft zu werden; Ähnliches treiben die Arbeitnehmervertreter auch in anderen Branchen voran, etwa in der Chemie- und in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst. Die Arbeitgeber sehen dies grundsätzlich kritisch, da sie einen solchen Anreiz nicht setzen wollen. Die Bahn bildet da offenbar keine Ausnahme: In ihrem Angebot ist von dem Bonus keine Rede.
Scheitern aber wird ein Tarifabschluss daran aller Voraussicht nach nicht. Viel wichtiger ist: Eine schnelle Einigung bei der Bahn ist in beiderseitigem Interesse; in der nächsten und übernächsten Woche treffen sie sich erneut zu Gesprächen. Die EVG hatte sich darum bemüht, die Verhandlungen, die eigentlich erst im März angestanden hätten, vorzuziehen. Sie will einen Abschluss vor der Bundestagswahl am 23. Februar erreichen, um die Mitarbeiter nicht weiter zu verunsichern. „Es gibt die Angst: Was wird aus unserer Bahn?“, sagte EVG-Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay kürzlich der SZ.
Eins ist klar: Das Sanierungskonzept muss funktionieren
Doch auch die Bahn hat ein Interesse daran, die Verhandlungen zügig abzuschließen. Der Vorstand um Bahnchef Richard Lutz steht enorm unter Druck. Dem Konzern droht abermals eine tiefrote Jahresbilanz, die Fernzüge waren im vergangenen Jahr so unpünktlich wie seit 2021 Jahren nicht mehr. Und die Infrastruktur ist so marode, dass nur mit einer Vielzahl von Vollsperrungen in den kommenden Jahren überhaupt Besserung in Sicht ist.
Ende vergangenen Jahres hat Lutz ein umfassendes Sanierungskonzept namens „S3“ vorgelegt, das den Konzern aus der Krise holen soll. Der Plan: Bis 2027 nicht nur profitabel, sondern auch pünktlich werden. Sprich: 75 bis 80 Prozent der Fernzüge sollen wieder planmäßig ankommen. Hinter vorgehaltener Hand bezweifeln zwar selbst einige Bahn-Aufsichtsräte, dass die Ziele realistisch sind. Zumal es sich größtenteils um Ziele handelt, die Lutz schon 2019 für 2024 versprochen hatte. Intern ist jedoch die Maßgabe: Es gibt keine Alternative, das Sanierungskonzept muss funktionieren.
Eine Auseinandersetzung mit der Hausgewerkschaft käme da äußerst ungelegen. Nicht nur, weil mögliche Streiks im Falle einer Nichteinigung erneut die Konzernbilanz und die Pünktlichkeitswerte belasten würden. Sondern auch, weil Personalvorstand Martin Seiler ohnehin schon genügend Probleme hat. Die Personalkosten lagen im vergangenen Jahr mehr als sechs Milliarden über den ursprünglich veranschlagten 28 Milliarden Euro. Bis 2027 will die Bahn nun 10 000 bis 15 000 Vollzeitstellen streichen, die Personalkosten müssen runter. „Auch wir als Unternehmen brauchen in der schwierigen Phase der Sanierung Planungssicherheit und Klarheit“, sagte Seiler am Dienstag zum Auftakt der Verhandlungen. Man werde „zügig verhandeln“ und „zügig zu Kompromissen kommen“.
Hinzu kommt, dass die Union unter Friedrich Merz offen mit einer Zerschlagung des Bahnkonzerns in Netz und Betrieb liebäugelt. Die Ampel hatte in dieser Legislatur lediglich die Gründung einer gemeinwohlorientierten Infrastrukturtochter unter dem Konzerndach und somit keine harte Trennung vollzogen. Viele in der Union halten das für einen Fehler. EVG und Bahn halten gemeinsam dagegen. Und wären jeweils dankbar über eine Baustelle weniger.