Auf Millionen Reisende kommen neue Streiks zu, nachdem die Gewerkschaft EVG das Lohnangebot des Konzerns zurückgewiesen hat. "Es wird sicher kurzfristig einen Warnstreik geben", kündigte Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay an. Über den Zeitpunkt berate man in den kommenden Tagen.
Der Streik soll noch nicht an diesem Wochenende stattfinden, denn die Gewerkschaft will die Gedenkveranstaltung zum Zugunglück in Eschede nicht stören. Auf der Strecke Hamburg - Hannover war es am 3. Juni 1998 zum schwersten Bahnunfall in der Bundesrepublik mit mehr als 200 Toten und Verletzten gekommen. Die EVG möchte weder am Tag der Gedenkveranstaltung am Samstag noch während der An- und Abreise am Freitag und Sonntag den Zugverkehr lahmlegen.
Ingenschay kündigte an, Streiks weiterhin rechtzeitig bekannt zu geben. Das bedeutet, dass die Arbeit frühestens kommenden Montag niedergelegt werden dürfte. Interessant wird, wie sich die Gewerkschaft zum Evangelischen Kirchentag verhalten wird, zu dem vom kommenden Mittwoch an bis Sonntag in Nürnberg 100 000 Gäste aus ganz Deutschland erwartet werden. Der Kirchentag ist Partner der Bahn und wirbt der Umwelt zuliebe für die Anreise per Zug. Die EVG diskutiert intern auch über eine Urabstimmung der Mitglieder. Bei einem positiven Votum wären unbefristete Streiks möglich.
Sowohl Gewerkschaft als auch Bahn-Konzern geben sich gegenseitig die Schuld daran, dass die Verhandlungen erneut stoppen. "Die EVG bewegt sich selbst nach fünf Verhandlungsrunden keinen einzigen Millimeter von ihrer ursprünglichen Lohnforderung", kritisiert Bahn-Personalvorstand Martin Seiler. "Da machen Verhandlungen derzeit keinen Sinn." Die EVG nannte das Lohnangebot des Konzerns "inakzeptabel". Damit nehme das Unternehmen neue Streiks billigend in Kauf. Nur wenn sich die Bahn beim Lohn ernsthaft bewege, seien neue Arbeitsniederlegungen zu verhindern.
Die EVG drängt wie andere Gewerkschaften auf starke Lohnerhöhungen vor allem für Beschäftigte mit geringeren Einkommen
Die Tarifverhandlungen betreffen 200 000 Beschäftigte verschiedener Verkehrsbetriebe, die meisten bei der Deutschen Bahn. Es gab bereits zwei Warnstreiks im März und April, bei denen die Gewerkschaft EVG den Zugverkehr für Millionen Reisende je fast einen Tag lahmlegte. Ein dritter, für rund 50 Stunden geplanter Warnstreik wurde erst nach einem gerichtlichen Vergleich gestoppt.
Mehrere Faktoren machen die Einigung auf einen neuen Tarifvertrag diesmal besonders schwierig. Da ist zum einen die hohe Inflation von derzeit sechs Prozent aufs Jahr gerechnet, die die realen Einkommen der Bahnmitarbeiter dezimiert. Deshalb drängt die EVG wie andere Gewerkschaften auf starke Lohnerhöhungen vor allem für Beschäftigte mit geringeren Einkommen. Diese leiden nach wissenschaftlichen Studien besonders stark unter der Preiswelle, da sie einen hohen Anteil ihres Einkommens für Grundbedürfnisse wie Heizen, Strom und Nahrung ausgeben, die sich besonders stark verteuert haben.
Die EVG fordert zwölf Prozent mehr Lohn für ein Jahr, mindestens aber 650 Euro Erhöhung. Dieser Mindestbetrag würde den 20 000 Wenigverdienern eine Gehaltssteigerung von um die 25 Prozent bescheren. Das bisher letzte Angebot der Bahn gewährt den unteren Lohngruppen zusätzlich zu einer Inflationsprämie von knapp 3000 Euro zwölf Prozent mehr Gehalt, aber verteilt auf zwei Jahre. Da klafft eine große Differenz zur Forderung der Gewerkschaft.
Das Angebot würde die Bahn nach ihren Angaben 1,4 Milliarden Euro im Jahr kosten, die Forderung der EVG 2,5 Milliarden Euro
Dies ist ein zentraler Grund, warum die EVG das Bahnangebot zurückweist. Die vorgesehene prozentuale Staffelung benachteilige die unteren Lohngruppen, erklärte Verhandlungsführer Kristian Loroch. Man habe mit der Bahn erörtert, wie sich ein Mindestbetrag im Tarifabschluss abbilden lasse. Dies finde sich im Angebot nicht wieder.
Dem Bahn-Management wird klar sein, dass der Gewerkschaft der Sonderaufschlag für Wenigverdiener besonders wichtig ist. Trotzdem differenziert sie ihr Angebot zwischen den einzelnen Verdienstgruppen weniger als die EVG möchte: Während Wenigverdiener zwölf Prozent mehr Gehalt bekommen sollen, sind für Mitarbeiter im mittleren Lohnsegment zehn Prozent vorgesehen und für höher bezahlte acht Prozent. Die Inflationsprämie bekommen alle. Ein Mindestbetrag, wie ihn die Gewerkschaft fordere, verändere das Gehaltsgefüge, heißt es bei der Bahn. Ausgeschlossen sei er aber nicht.
Die Gewerkschaft verzögert eine Einigung, indem sie erneut auf einem völlig neuen Angebot besteht, statt sich in Verhandlungen anzunähern. "Die Deutsche Bahn muss endlich ein Angebot machen, das auf unsere Forderung eingeht. Nur dann sind zielführende Verhandlungen möglich", sagt Verhandlungsführer Loroch. Die Gewerkschaft hatte bereits zuvor Verhandlungen aufgeschoben, bis der Konzern Vorbedingungen wie Gehaltsaufschläge für Bezieher des Mindestlohns erfüllte.
Das aktuelle Lohnangebot würde die Bahn nach ihren Angaben 1,4 Milliarden Euro im Jahr kosten. Die Forderung der EVG umzusetzen, koste aber 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Dabei solle die Bahn ja gerade viel investieren. Ein zu hoher Lohnabschluss könne die Schulden der staatseigenen Firma erhöhen.