Autozulieferer:Wie Leoni in die Krise rutschte

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Leoni-Mitarbeiterinnen stecken Kabel in einem chinesischen Werk des Automobilzulieferers. (Foto: Leoni GmbH)

Milliardenschulden, geplatzter Verkauf, Manager-Roulette: Der Kabel- und Drahtkonzern Leoni kämpft ums Überleben.

Von Uwe Ritzer, Nürnberg

Der Nächste, bitte! Die Leoni AG, Arbeitgeber von 100 000 Menschen und von der Automobilindustrie als systemrelevanter Zulieferer eingestuft, braucht einen neuen Vorstandsvorsitzenden, und das zum vierten Mal in acht Jahren. Ebenso häufig wechselte der Finanzchef. Insgesamt kamen und gingen mehr als ein Dutzend Vorstände seit 2015. Dem Jahr, in dem die Misere begann, die dem Kabel- und Drahtkonzern, einem der größten Hersteller von Kabelbäumen für Autos, eineinhalb Milliarden Euro Schulden einbrachte. Die Leoni AG schlingert in akuter Insolvenzgefahr vor sich hin, sie kämpft ums Überleben. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr.

Die Galgenfrist der Banken endet zur Jahresmitte. Bis dahin braucht die Firma mit Sitz in Nürnberg, bei der in den vergangenen Jahren ziemlich vieles schieflief, einen Plan und ein Restrukturierungs- und Refinanzierungskonzept. Es war ein unfreiwillig vielsagender Satz, mit dem der noch bis Ende März amtierende Vorstandsvorsitzende Aldo Kamper seine Rückkehr zu Osram ankündigte. "Ich bin stolz, dass es Leoni noch gibt", sagte er. Ein Satz, der einem Offenbarungseid gleichkommt. Kampers Abgang, der Öffentlichkeit als persönliche Entscheidung für seine alte Liebe Osram verkauft ("Da konnte ich nicht Nein sagen"), wirkt wie eine Flucht. Ausgerechnet jetzt, wo Leoni nichts mehr bräuchte als Stabilität in der Führung, um wieder Vertrauen in der Branche, vor allem aber am Kapitalmarkt zurückzugewinnen. Wobei anzumerken ist: An Kamper lag es nicht. Die Leoni-Krise wurzelt tief, sie dauert schon lange, und zu verantworten haben sie viele.

Kürzlich haben sie Hans-Joachim Ziems als Vorstand zurückgeholt, der den Ruf eines Restrukturierungsexperten genießt. Von April 2020 bis März 2021 war er schon in derselben Funktion da. Ziems' Aufgabe war es damals und ist es jetzt wieder, Ruhe bei den Banken herzustellen. Denn Kampers letzter großer Plan zerplatzte kurz vor Weihnachten. Für 400 Millionen Euro wollte die Leoni AG den wesentlichen Teil ihres Kabelgeschäfts samt 3300 Arbeitsplätzen an die thailändische Stark Corporation verkaufen. Doch der Deal scheiterte im letzten Moment, woran genau, ist unklar. Mit dem Geld sollten hauptsächlich Schulden getilgt werden. Nun heißt es, man suche nach einer Lösung, bei der Leoni sein Kabelgeschäft fortführen könne. "Natürlich sind wir froh, wenn die Arbeitsplätze im Konzern erhalten bleiben", sagt Franz Spieß, Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Wie aber sollen dann die exorbitanten Schulden getilgt werden?

Die Aktionäre, allen voran die österreichische Pierer Industrie AG, die etwa ein Fünftel der Leoni-Aktien hält, müssen sich auf einen schmerzhaften Kapitalschnitt einstellen. Ohne werde es vermutlich nicht gehen, teilte der Nürnberger Konzern vor einer Woche unter Hinweis auf die laufenden Verhandlungen mit den Kreditgebern in einer Pflichtmitteilung für die Börse mit. In Finanzkreisen wird spekuliert, die Gläubiger könnten durch einen sogenannten Debt-Equity-Swap bis zu 95 Prozent der Anteile übernehmen. Bei einem solchen Schuldenbeteiligungstausch werden Forderungen von Gläubigern in eine Kapitalbeteiligung für sie umgewandelt.

In der Branche gelten Leoni-Produkte als innovativ

Das Kuriose an alledem ist, dass Leoni überhaupt in diese Notlage gekommen ist. Denn eigentlich spielt dem Unternehmen sehr viel in die Karten. Bordnetze, das wichtigste Leoni-Produkt, sind gefragter denn je. Je komplexer Fahrzeuge werden, desto wichtiger ist das Netz aus Kabeln und Steckern, das elektronische Kommandos verteilt und umsetzt. Die Franken gehören mit den Konkurrenten Aptiv, Sumitomo, Yazaki und Dräxlmaier zu den fünf größten Herstellern. Auch der Trend zur Elektromobilität müsste Leoni als Kabel- und Drahtexperten eigentlich entgegenkommen. In der Branche gelten Leoni-Produkte als innovativ und technologisch wettbewerbsfähig. Letzteres gilt auch für die Drahtsparte. Und außerdem müsste auch Leoni davon profitieren, dass die Geschäfte der Automobilindustrie insgesamt gerade wieder anziehen.

"Die Krise von heute kann man nur erklären, wenn man in der Firmengeschichte einige Jahre zurückgeht", sagt einer, der lange bei Leoni Verantwortung trug und jetzt eine "verhängnisvolle Goldrausch-Mentalität" anprangert. Dabei galt Leoni etwa bis 2015 als grundsolide geführt. Dann aber setzte man unter Führung des damaligen Vorstandschefs und späteren Aufsichtsratsvorsitzenden Klaus Probst zum ganz großen Sprung an. "Strategie 2025" hieß der Plan, binnen zehn Jahren den Umsatz von 4,1 auf neun Milliarden Euro mehr als zu verdoppeln und einher damit die Rendite gewaltig zu steigern. Das, sagt der Leoni-Veteran, habe falschen Ehrgeiz geweckt und eine Kette von fatalen Fehlentwicklungen in Gang gesetzt. Fortan wurden pausenlos neue Fabriken und Standorte in vielen Teilen der Welt eröffnet sowie Aufträge noch und nöcher akquiriert. Es war ein Wachstum um des Wachstums willen, das sich als schwer verdaulich erwies.

Bunte Palette: Kabel von Leoni. (Foto: imago stock&people)

Leoni verpatzte gleich mehrere Anläufe mit Bordnetzen für neue Fahrzeugtypen, was Unsummen an Geld verschlang. Probst hatte den Vorstandsvorsitz zwischenzeitlich an Finanzchef Dieter Bellé übergeben, der intern als cleverer Pfennigfuchser galt, mit dem Vorstandsvorsitz aber überfordert wirkte. Nach nicht einmal drei Jahren war er weg: Das bis heute anhaltende Bäumchen-wechsle-dich-Spiel hatte begonnen, und das nicht nur im Vorstand, sondern auch im Aufsichtsrat. Intern häuften sich teure Fehler, hinzu kamen die Verwerfungen in der Branche insgesamt wie die Corona-Pandemie, Chinas Umgang damit, die Lieferprobleme und schließlich Russlands Überfall auf die Ukraine. Ausgerechnet das Land, in dem 7000 Leoni-Beschäftigte in zwei Fabriken in viel Handarbeit die Bordnetze zusammenstecken. Binnen kürzester Zeit musste Leoni nach alternativen Standorten suchen.

Institutionelle Anleger haben das Vertrauen verloren

Der Dominoeffekt aus eigenen Fehlern und negativen Einflüssen schlug auf das Finanzierungskonzept durch. Das ehrgeizige Wachstumsprojekt "Strategie 2025", zu einem guten Anteil auf Pump finanziert, spülte nicht die erhofften Gewinne ins Unternehmen. Seit Jahren schon schreibt Leoni Verluste, der Aktienkurs brach von knapp 56 Euro im Mai 2018 auf aktuell etwas über drei Euro ein. Vor allem institutionelle Anleger verloren das Vertrauen. Das Wachstumskartenhaus aus dem Jahr 2015 ist zusammengebrochen.

Leoni muss nun den Banken etwas bieten, zumindest eine realistische Aussicht darauf, dass sie ihr Geld wieder zurückbekommen. Die Hoffnungen ruhen, nicht zum ersten Mal, auf dem Restrukturierungsexperten Ziems. Kamper, sagt einer, der mit ihm eng zusammengearbeitet hat, habe alles versucht, sei empathisch und ein Innovator. Als Sanierer aber wäre er überfordert. Franz Spieß von der Gewerkschaft IG Metall sagt, die Arbeitnehmervertreter würden sich "momentan keine akuten Sorgen um die Arbeitsplätze machen", da die Leoni-Produkte am Markt gefragt seien. "Aber es ist klar, dass die Situation seit Jahren schwierig ist und sich bald etwas in eine gute Richtung entwickeln muss", so Spieß.

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