Süddeutsche Zeitung

Autoindustrie in der Abgas-Affäre:VW-Konkurrenz fürchtet Flächenbrand

  • Während VW noch seine möglicherweise manipulierten Dieselfahrzeuge zählt, drängen US-Unternehmen auf den Automarkt.
  • BMW-Chef Harald Krüger wehrt sich gegen die "Einteilung in traditionelle und moderne Autobauer". Die Welt habe sich für die gesamte Branche verändert.
  • Jeder siebte Job in Deutschland hängt direkt oder indirekt von der Autoindustrie ab.

Analyse von Thomas Fromm

Es passt zu dieser Geschichte, dass manche in diesen Tagen vor allem zurückblicken und andere nach vorne schauen. VW, dieser alte, deutsche Konzernkoloss mit zwölf Marken und 600 000 Mitarbeitern weltweit, dreht sich in die Abgründe eines Abgas-Skandals. Wie konnten jahrelang Abgasmessungen bei Dieselautos manipuliert, Kunden und Behörden getäuscht werden? Und wie kann es sein, dass der Konzern noch bis vor ein paar Tagen vor Kraft nur so strotzte und plötzlich in der größten Krise seiner Geschichte steckt?

Und ausgerechnet während VW noch seine verseuchten Diesel-Fahrzeuge zählt, rüsten andere auf, mächtige Konzerne aus Kalifornien. Zuerst Apple, der Computer- und Smartphone-Konzern. Das IT-Unternehmen hat das Ziel ausgegeben, 2019 mit einem eigenen Auto, dem iCar, am Start zu sein. Code-Name des Geheim-Projekts: Titan. Und da ist Google, der andere große IT-Konzern aus dem Silicon Valley; er ließ in diesen Tagen den Prototypen eines selbstfahrenden Elektroautos auf dem Dach eines ehemaligen Einkaufszentrums in Kalifornien herumfahren. Ein Auto, das schon in fünf Jahren ausgeliefert werden könnte und von dem ein Autoexperte sagt, es erinnere ihn an einen kleinen Fiat 500. Nur ohne Lenkrad und Pedale, weil man das alles in Zukunft ja nicht mehr braucht.

Und, ebenfalls an der amerikanischen Westküste, zeigte der Elektroautobauer Tesla sein elektrisches SUV, ein geländegängiges Stadtauto mit Flügeltüren. "Das Modell X setzt im Automobilbau eine neue Messlatte", sagte der Tesla-Vorsitzende Elon Musk. Es sei "ein Auto aus der Zukunft".

Tesla, Apple und Google drängen mit aller Macht auf den Automarkt. Und VW, einer der größten Autobauer der Welt, sah noch nie so alt aus wie seit Beginn der Affäre am 18. September, als die amerikanische Umweltbehörde Epa den Schwindel öffentlich machte. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse könnte für die Autoindustrie eine Zeitenwende einläuten.

Erst allmählich dämmert es in den Vorstandsetagen der deutschen Schlüsselindustrie: Es geht nicht nur um VW-Vorstände, die jetzt gehen müssen, nicht nur um den Dieselmotor, um den VW-Konzern, den dieser Skandal ohnehin von Grund auf verändern wird. Es geht diesmal um das große Ganze - um die Welt der traditionellen Autobauer. Und die wollen nach diesen schmerzhaften Wochen nicht kampflos aufgeben.

"Ich halte eine Einteilung in traditionelle und moderne Autobauer für unangebracht", sagte BMW-Chef Harald Krüger der Süddeutschen Zeitung. Die Welt habe sich inzwischen für die gesamte Branche verändert: Wer in Zukunft Erfolg haben wolle, müsse sich folgende Fragen stellen: "Wie nutze ich die Möglichkeiten der Digitalisierung für meine Kunden und für mein Unternehmen? Und: Wie kann ich individuelle Mobilität so nachhaltig und umweltfreundlich wie möglich anbieten?" Dies gelte "für alle, egal, ob Sie im Silicon Valley oder in Bayern zu Hause sind". Fassungslos schaut eine ganze Branche nach Wolfsburg. Je mehr in diesen Tagen über die Abgasmanipulationen bei VW bekannt wird, desto tiefer schauten die VW-Konkurrenten in ihre eigenen Entwicklungslabors. Ihre Angst ist, dass von Wolfsburg aus ein Flächenbrand über das Land zieht. "Wir müssen täglich am Vertrauen unserer Kunden arbeiten", warnt BMW-Chef Krüger. "Das ist kein Selbstläufer. Dazu gehört, dass wir uns ohne Wenn und Aber an die Vorgaben der Politik halten."

Jeder siebte Job in Deutschland hängt direkt oder indirekt von der Autoindustrie ab; und wenn die Welt weniger deutsche Autos kauft, hat das gravierende Folgen für Wolfsburg, Ingolstadt oder Dingolfing. Die IG Metall warnt: Tausende Jobs in der Zuliefererindustrie seien wegen des Skandals gefährdet. In Gefahr ist aber zunächst VW selber. 6,5 Milliarden Euro hat der Konzern für die Folgen des Skandals zurückgelegt. Die werden aber kaum mehr als die Kosten für die Umrüstungen der betroffenen Fahrzeuge abdecken. Bis zu 50 Milliarden Euro könnte VW die Affäre in den nächsten Jahren insgesamt kosten - Imageverlust und Absatzeinbruch nicht mitgerechnet. So viel Geld hat selbst der Auto-Gigant nicht.

Schon spielen die ersten Analysten ihre Szenarien durch. Am Ende könnte der VW-Konzern, der in den vergangenen Jahren durch teure Zukäufe zu einem Zwölf-Marken-Reich anschwoll, einige dieser Marken wieder zurück auf den Markt werfen. Zum Beispiel die Lkw-Sparte mit MAN und Scania, die Auto-Marken Seat und Skoda, oder - besonders schmerzhaft - die Luxus-Töchter Audi und Porsche.

Nach den dramatischen Kursverlusten der VW-Aktie ist der Konzern noch 48 Milliarden Euro wert; der Auto-Newcomer Apple sitzt heute auf einem Vermögen von 180 Milliarden Euro. Er könnte VW sogar kaufen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2673747
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.10.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.