Süddeutsche Zeitung

Ausstieg aus der Kernenergie:Raumschiff Berlin

Kanzlerin Merkel hat einen taktischen Fehler gemacht: Wer aus der Kernenergie aussteigen und diese Industriegesellschaft modernisieren will, muss die Industrie auch mit ins Boot holen. Das hat sie unterlassen. Jetzt herrscht Misstrauen zwischen Regierung und Wirtschaft.

Karl-Heinz Büschemann

Der Ausstieg aus der Atomkraft ist beschlossen. Bis 2022 sollen alle deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein. Das hat die Regierungskoalition am Sonntag beschlossen. Ein großer politischer Schritt, eine Entscheidung, die von der Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wird, weil die Atom-Katastrophe von Fukushima die Risiken der Kerntechnik noch einmal deutlich gemacht hat.

Alles wird gut, könnte man sagen - wenn es nicht so viele Fragezeichen gäbe. Kaum jemand, außer Kanzlerin Angela Merkel und Umweltminister Norbert Röttgen, ist mit der Entscheidung zufrieden. Die Union mault, der Koalitionspartner FDP ist unzufrieden. Dass die Oppositionsparteien nörgeln ist normal. Auch dass die Wirtschaft meckert, die lange auf die Atomenergie gesetzt hat, war zu erwarten. Aber zwei Dinge machen nachdenklich: Dass nicht einmal die staatliche Bundesnetzagentur an die ehrgeizigen Ausstiegspläne der Kanzlerin glaubt, lässt auf schwere Mängel ihres Konzepts schließen. Zweitens ist es ein taktischer Fehler, dass die weitreichenden Ausstiegspläne fast ohne Beteiligung von Wirtschaft und Industrie zustande kamen. Nicht etwa, weil die Industrie immer recht hätte, das hat sie nicht. Aber wer diese Industriegesellschaft modernisieren will, muss die Industrie ins Boot holen. Gegen sie lässt sich die energiepolitische Runderneuerung der Bundesrepublik, von der die Arbeitsplätze der Zukunft kommen, nicht machen.

Es ist erstaunlich. Berlin hat so viele Lobbyisten wie nie zuvor; die stehen im Verdacht, die Regierung zu beeinflussen und zu manipulieren. Gleichzeitig aber gibt es kaum noch einen geordneten Dialog zwischen Wirtschaft und Regierung. Es gibt nicht einmal mehr lauten Streit wie früher zwischen den Machtvertretern von Politik und Profit. Zwischen Regierung und Wirtschaft liegt das große Schweigen des Misstrauens. Früher sprach man vom "Raumschiff Bonn", nun gibt es das "Raumschiff Berlin".

Die Kanzlerin hat bei den Managern ihren Kredit weitgehend verbraucht, weil sie ihre politische Agenda in Abhängigkeit von Landtagswahlen ändert. Damit verspielt sie, was die Wirtschaft erwartet: Verlässlichkeit für Investitionen. FDP-Wirtschaftsminister Rainer Brüderle konnte in anderthalb Jahren im Amt kein Ansehen aufbauen. Den Nachfolger Philipp Rösler hindert sein jugendliches Alter von 38 Jahren daran, von der Wirtschaft als Anwalt ihrer Belange ernst genommen zu werden. Die Vertreter der Wirtschaft fühlten sich in der großen Koalition und unter Rot-Grün besser verstanden. Ironischerweise trauern sie den Sozialdemokraten nach, die mit ihrer Nähe zu den Gewerkschaften in der Wirtschaft besser verdrahtet sind als die heute Regierenden. Sie sehnen sich zurück nach Männern wie Gerhard Schröder, Wolfgang Clement oder Peer Steinbrück.

Dass das Ansehen der Manager in den Augen der Kanzlerin verloren hat, liegt aber auch an der Ungeschicklichkeit mancher Wirtschaftsvertreter. Die erbärmliche Hilflosigkeit der Banker in der Finanzkrise hat das Ansehen der Führungskaste bei ihr sicher nicht gefördert. Auch die hohen Gehälter bei gleichzeitig oft mangelhafter Leistung tragen bei der nüchtern denkenden Politikerin kaum zur Wertschätzung bei.

Dennoch hätte die Kanzlerin die ungeliebten Manager hinzubitten müssen, als sie ihre Strategie des Atom-Ausstiegs betrieb. Damit hat sie sich im Moment ein paar Streitereien erspart. Aber ihr muss klar sein, dass diese Debatten nur verschoben sind. In der Frage der Kernkraft geht es um mehr als um das Energiekonzept einer Partei. Es geht um die energiepolitische Zukunft der ganzen Republik. Die jetzt beschlossene Ausstiegsstrategie muss für ein paar Jahrzehnte Bestand haben und nicht nur bis zur nächsten Wahl. Deshalb braucht die Kanzlerin die Unterstützung aller Gruppen - und nicht nur derjenigen, die sie gerade schätzt.

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SZ vom 31.05.2011/hgn
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