Augsteins Welt:Vorbild für Europa

Winston Churchill hat einst gesagt: "Engländer ziehen nie eine Linie, ohne sie zu verwischen." Das gilt auch für seine Nachfolgerin Theresa May und ihre Aussage "Brexit ist Brexit". Noch lässt die Premierministerin offen, wie sie die Linie genau ziehen wird.

Von Franziska Augstein

Ein Wort Winston Churchills hätte als Motto über dem Konklave bedeutender Ökonomen stehen können, das in der vergangen Woche in Cambridge stattfand: "Das Moment des Unerwarteten und Unvorhersehbaren (...) bewahrt uns davor, den Logikern in Knechtschaft zu fallen."

Adair Turner, bis 2013 Chef der britischen Finanzmarktaufsichtsbehörde, hielt eine flammende Rede auf die Organisation, zu deren Leitern er jetzt gehört: das Institute for New Economic Thinking (INET). Es wurde auch auf Betreiben des Milliardärs George Soros gegründet, als die Finanzkrise offenbar gemacht hatte, dass die mathematischen Modelle der Neoklassiker nicht funktionieren, der rein rational entscheidende Mensch nur in der Fantasie von Ökonomen existiert und die Finanzmärkte sich eben nicht von allein regeln.

Auf dem Konvent debattierten Keynesianer und Ordoliberale miteinander über das, was sie trennt. Den Ordoliberalen wird nachgesagt, allzu sehr auf strikte Regeln zu setzen. Den Keynesianern wird nachgesagt, allzu mutwillig Geld in die Wirtschaft pumpen zu wollen, um die Konjunktur anzukurbeln. Im Sinn des letzteren agiert die Europäische Zentralbank (EZB) seit einigen Jahren. Das Dumme ist nur, dass die eifrige Geldbeschaffung der EZB nicht genug Wirkung hat. Derzeit heißt die Devise nämlich: Sparen. Die Banken sparen, indem sie möglichst wenig Kredite vergeben; die Unternehmen sparen, weil sie verunsichert sind.

Augsteins Welt: An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.

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John Maynard Keynes selbst, so meinten manche in Cambridge, habe sich einst schnell von seinem Rezept der Defizitfinanzierung abgewendet. Der Kölner Peter Jungen spitzte das Argument zu: "Heute wäre Keynes wahrscheinlich kein Keynesianer. Die Nullzinspolitik der EZB würde er wohl für gefährlich halten." Schon 1937 interessierte Keynes sich für ein neues Feld: Wie kommt es überhaupt zu Verwerfungen auf den Finanzmärkten? Sein köstliches Ergebnis, das Oma Mimi ihm und den Ordoliberalen auch hätte sagen können: "radical uncertainty", völlige Ungewissheit, weil die Akteure auf den Märkten nicht genug über die Zukunft wissen.

Und damit sind wir bei Churchills Zitat vom "Unvorhersehbaren". Churchill hat übrigens auch gesagt: "Engländer ziehen nie eine Linie, ohne sie zu verwischen." Getreu diesem Motto handelt die britische Premierministerin Theresa May: Die Tory-Politikerin war eher gegen den Brexit, hat das sicherheitshalber aber nur ganz leise gesagt. Lauter Brexit-Befürworter hat sie zu Ministern ernannt, vermutlich in der Hoffnung, sie möchten einander im politischen Konkurrenzkampf kaltmachen. In London wundert man sich darüber, dass Frau May bisher keinerlei Anstalten gemacht hat, den Brexit anzugehen. Vermutlich wartet sie einfach ab, bis sie weiß, in welche Richtung sie die Linie verwischen will.

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Millionen Ausländer leben und arbeiten in Großbritannien. Darunter 750 000 Polen und 133 000 Deutsche. Seit dem Brexit fühlen viele sich unerwünscht in dem Land und würden gern wegziehen.

Auf dem Konvent von INET in Cambridge wurden Theresa May keine Vorhaltungen gemacht, wohl aber der Europäischen Union. Der Historiker Brendan Simms tat sich hervor. Er sei Ire, sagte er, daher dürfe er frei reden: Großbritannien habe es nicht nötig, den EU-Austritt anzuleiern. Ganz im Gegenteil, die EU bedürfe des Vereinigten Königreichs: Wer sonst würde den Westen militärisch vor den Russen schützen? Schon deshalb müsse die EU Entgegenkommen zeigen. Von derlei Kriegsangstvorstellungen unbelastet ist Clemens Fuest, Leiter des Ifo-Instituts: Der SZ sagte er neulich, man solle den Briten den Wunsch nach "einer Obergrenze für Migration" erfüllen und sie dafür in alle EU-Regulierungen einbinden. Sollte das passieren, werden etliche Länder der EU dasselbe fordern, zum Schaden Europas. Churchill sagte 1943: "Die Umstände in unserem Land könnten ein Vorbild sein für Europa."

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