Süddeutsche Zeitung

Augsteins Welt:Frustrierte Ermattung

Die britische Brexit-Premierministerin tritt zurück. Viel zu spät. Viele Bürger haben den Eindruck, sich auf Politiker nicht verlassen zu können.

Von Franziska Augstein

In den 80er- und 90er-Jahren blickten britische Kommentatoren mitleidig auf die Bundesrepublik herab: Die schilderten sie als Land, wo die Einwohner gleich nach der Morgendusche Asche auf ihr Haupt schütteten wegen der Schoah, und wo die Regierung um des lieben Friedens willen im Rahmen der EG und dann der EU Frankreich nach dem Munde rede. Heute lamentieren nicht nur deutsche Kommentatoren, Britannien befinde sich in einer Identitätskrise.

In seinem neuen Buch "Heroic Failure" (Gewaltiges Scheitern) hat der irische Journalist Fintan O'Toole dem Nachbarland aufs Köstlichste heimgeleuchtet. Er meint, dass die Briten nur dann zufrieden seien, wenn sie sich als Opfer sehen könnten, die sich - wie im Zweiten Weltkrieg - großer Bedrängnis erwehren müssten: So werde heute die EU zu dem stilisiert, was einst die deutsche Wehrmacht war. Die These ist amüsant, aber nicht völlig hinreichend. Bei aller Pflege der Zweiter-Weltkrieg-Folklore: Damit allein lässt der Brexit sich nicht erklären.

Die Höhe des Bruttosozialprodukts und die Außenhandelsbilanz sind bekanntlich Ziffern, die ganz normale Bürger nur indirekt betreffen. Das gilt zumal für Britannien. Margaret Thatcher und ihre Nachfolger hatten die Industrie abgebaut und auf den Finanzsektor sowie überhaupt jede Art von Dienstleistung gesetzt. Das ergab Arbeitsplätze in London und dem Südosten Englands. Alle übrigen Bürger konnten sehen, wo sie blieben.

Die Financial Times, die grundsätzlich für den Freihandel votiert, konstatierte vor einem Jahr: Wenn denn schon der Zuzug von Ausländern mit dem Brexit verhindert werden solle, dann habe das zumindest einen Vorzug: Krankenschwestern und Altenpfleger hätten künftig bei der Einstellung eine bessere Verhandlungsbasis. Mangels auswärtiger Billigkräfte könnten sie vielleicht Löhne erwirken, die es ihnen erlaubten, die hohen Mieten an Orten wie London zu zahlen. Auf dem Tech-Sektor ist Britannien heute ziemlich gut und zieht Investoren an. Mit ein wenig vernünftiger Industriepolitik sollte es möglich sein, Start-ups dazu zu bringen, sich im Norden des Vereinigten Königreichs und in Wales anzusiedeln.

Der Brexit, das ist so gut wie ausgemacht, wird für alle Beteiligten auf wenigstens die kommenden zehn Jahre nur Nachteile bringen. Frankreich hat sich angeblich schon fit gemacht für die Schlangen von Lkw, die in Calais abgefertigt werden müssen, wenn sie die Fähre nach Dover nehmen. Nahe Dover soll, so ein Vorschlag, ein Teilschwanz der Autobahn nach London dafür eingerichtet werden, die Lkw, die durch den Zoll müssen, abzufertigen. Die freudige Prognose der Fachleute: Bis Anfang der 2020er Jahre könne man das hinbekommen.

Wenn Großbritannien die EU kühl verlässt, muss das Land im Umgang mit der EU nach den Regeln der Welthandelsorganisation verfahren. Da gibt es dann keine Sonderklauseln mehr. Die Befürworter des Brexit meinen, Britannien könne dann - von der EU nicht behindert - lukrative Handelsabkommen mit anderen Ländern treffen. Interessanterweise sind diese Länder - Kanada, Indien, Australien vorneweg - frühere Kolonien oder Dominions des Britischen Empire. Nun ja. Diese Länder liegen weit weg von dem einstigen Souverän. Dort will man Geld verdienen. Britannien hat 66 Millionen Einwohner. Die EU ohne Britannien hat 450 Millionen Einwohner. Frage: Wo werden Firmen dieser Länder wohl Dependancen einrichten, im Vereinigten Königreich oder auf dem Kontinent?

Die Bürokratie hilft dabei, an sich unverständliche Direktiven hinzunehmen

Die Brexit-Freunde meinen, Großbritannien könne ein legales Steuerparadies werden, ähnlich wie Irland. Für die Iren war damit wenig gewonnen. Genützt hat es nicht bloß Giganten wie Apple, sondern auch Hausbesitzern auf dem Kontinent, die sich um die Versteuerung ihrer Immobilie drückten, indem sie in Irland eine Firma gründeten und ihr Haus über diese Firma laufen ließen.

Derzeit gibt es in Britannien noch keinen Aufstand der Gelbwesten, wie er in Frankreich zu erleben gewesen ist. Die Briten - mögen sie aus Liverpool stammen oder aus Pakistan - erwarten nicht allzu viel vom Staat. Die meisten wollen einfach nur in Ruhe leben. Blau-weiß-rote Demonstrationen oder solche mit Blau und gelben Sternchen hin oder her: Die Brexit-Debatte geht den meisten Briten mittlerweile auf die Nerven. Die Streitereien im Unterhaus, wo die Politiker sich offensichtlich vor allem für die eigene Karriere und ihre Partei interessieren, haben zu frustrierter Ermattung geführt.

Wie kam es zum Brexit? Fintan O'Tooles These genügt nicht. Hilfreich ist ein Buch von Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel: "Politik des Zusammenhalts. Über Demokratie und Bürokratie" (Hamburger Edition, 2019). Mit Bezugnahme auf den Soziologen Niklas Luhmann präsentieren die Autoren ein charmantes Paradox: Die Bürokratie stört jeden. Und eben deshalb sei sie für den Zusammenhalt einer Gesellschaft vorzüglich. Die Bürokratie ermögliche es den Bürgern, "für sie negative Verwaltungsentscheidungen zu akzeptieren, ohne dagegen protestieren zu müssen - etwa nach dem Motto: ,War eine typisch bürokratische Entscheidung. Da lässt sich nix machen.'"

Der unterschwellige Frust, der damit einhergeht, ist aber abrufbar. Genau das haben die Brexiter mit ihrer Kampagne gemacht. Millionen wurden ausgegeben, um den Leuten beizubringen, dass sie unzufrieden sind mit der EU - mit der EU, die nur minimalen Einfluss auf das Leben der Briten hat. Nach dem Brexit wird das Pfund enorm an Wert verlieren. Und das werden die Leute merken; sie werden nicht profitieren, sie werden verlieren. Es ist eine traurige Geschichte

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SZ vom 31.05.2019
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