Augsteins Welt:Die große Illusion
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Immer noch glauben viele, am Bruttoinlandsprodukt lasse sich der Wohlstand eines Landes ablesen- ein Irrtum.
Von Franziska Augstein
Dem Wirtschaftswachstum eines wohlhabenden Landes ist es zuträglich, wenn sich auf einer Autobahn eine Massenkarambolage ereignet. Was anschließend alles unternommen werden muss, um die Schäden an Leib und Material zu beheben, setzt viel Geld in Bewegung. Ärzte, Physio- und Psychotherapeuten bekommen zu tun, neue Autos müssen gekauft werden. So steigt das Bruttoinlandsprodukt, auf dem die Angaben über das Wirtschaftswachstum beruhen. Was ist da aber gewachsen? Gar nichts. Menschliches Elend und entstandener Sachschaden wurden, soweit möglich, behoben.
Das Wirtschaftswachstum ist eine heikle Größe. Der Erste, der das wusste, war der Erfinder des Bruttosozialprodukts, Simon Kuznets. Der aus der Sowjetunion in die USA emigrierte Ökonom erhielt in den 1930er-Jahren vom Kongress der USA eine schwierige Aufgabe: Er möge eruieren, wie man Amerikas nationales Einkommen bemessen könne. Die Politiker hatten keine Ahnung. Kuznets schlug vor, alle zu Buch liegenden Einkünfte zugrunde zu legen. Vergleicht man sie mit entsprechenden Ziffern der Vorjahre, hat man das Wirtschaftswachstum, aus dessen Entwicklung sich Weiteres ableiten lässt.
Kuznets Berechnungen zahlten sich wenig später aus, als die USA sich anschickten, gegen NS-Deutschland in den Krieg zu ziehen: Man musste wissen, wie viel industrielle Kraft in die Aufrüstung gesteckt werden konnte und wie viel für den heimischen Konsum aufgespart werden musste.
Mit dem Sieg der Alliierten über das NaziReich hat auch die Idee gesiegt, das Bruttoinlandsprodukt besage alles über das Wachstum. Kuznets aber warnte: Mit seinen Zahlen könne er keine Angaben darüber machen, was unbezahlte Arbeit wert sei, die von Hausfrauen zum Beispiel: "Den Wohlstand einer Nation kann man schwerlich ableiten von der Bemessung des Inlandseinkommens." Er ging noch weiter und sprach von der "Illusion", die aus dem Missbrauch seiner Vorgaben resultiere, dies besonders dann, wenn soziale Gruppen verschiedene Interessen hätten. Man müsse zwischen "Quantität und Qualität" von Wachstum unterscheiden. Indes, alle seine Vorbehalte haben Kuznets nichts genützt: 1971 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet (den er annahm).
Das Bruttosozialprodukt und das Wirtschaftswachstum sind nach wie vor maßgeblich. Wenn Politikern nichts anderes einfällt, reden sie vom Wirtschaftswachstum, das sie unterstützen, steigern und stetig - ja was wohl - wachsen lassen wollen.
Es gibt keine starken Ideologien mehr? Oh doch! Es gibt den Wachstumsglauben
Mittlerweile hat sich nicht bloß bei Umweltschützern herumgesprochen, dass die Wachstumsidee das Ende der von Menschen bewohnten Welt herbeiführen wird, lange bevor die Sonne das Licht ausmacht. Der Mensch mit seinem Erfindungsreichtum bringt es zuwege. Jedes Jahr sterben Tausende Tierarten aus, die für den Haushalt von Flora und Fauna wichtig sind. Jedes Jahr wird weltweit so viel Wald abgeholzt, wie in einen größeren europäischen Staat hineinpasst. Das alles, wohlgemerkt, trägt zum Wirtschaftswachstum bei. Und deshalb wird dagegen ernstlich nichts unternommen.
Unternehmen müssen wachsen. Wenn sie das nicht tun, droht ihnen der Untergang. Warum eigentlich? Hilmar Kopper, von 1989 bis 1997 Vorstandssprecher der Deutschen Bank, meint, anders gehe es nicht. Mit Anspielung auf den Verkauf von Monsanto an Bayer sagt er: "Der eine verkauft die Generika, der andere verkauft seinen Pflanzenschutz. So geht das immer hin und her." Für Banken gelte das übrigens auch.
Schweifen wir kurz ab auf schwänzelnde Mitbewohner in Stadt und Land: Bienen sind in Gefahr. Pestizide töten sie. Viel war über das weltweite Bienensterben in den vergangenen Monaten zu lesen. Was nicht in Geld taxiert werden kann, ist nichts wert. Bienenfreunde müssen es gewesen sein, die eruierten: Die volkswirtschaftliche Leistung der Bienen entspricht rund 200 Milliarden Dollar pro Jahr. Immerhin: Die EU hat das Überleben der geflügelten Kapitalerzeuger auf ihre Agenda gesetzt.
Hilmar Kopper kann sich sehr genau an den Bericht des Club of Rome von 1972 erinnern: "Die Grenzen des Wachstums". Das war geschrieben, meint er, "um uns zu erschrecken". Erschrocken wirkt er nicht. Wäre es nicht doch möglich, dass zumindest Unternehmen, die nicht börsennotiert sind, auf Wachstum verzichten und sagen: Unsere Rendite ist o.k., wir müssen nicht wachsen? Nein, sagt Kopper: "Um sich zu behaupten, muss ein Unternehmen neue Produkte auf den Markt bringen; das geht einher mit dem Erwerb oder der Entwicklung neuer Maschinen - und schon gibt es Wachstum." Unternehmen, die Kredite aufnehmen, müssen schon deshalb wachsen, um Zins und Zinseszins zu bedienen. Dass dergleichen auf die Ausbeutung endlicher Ressourcen hinausläuft, sei ein trauriger Nebeneffekt.
Simon Kuznets warnte vergeblich vor seiner eigenen Theorie. Hätte er sie nicht entworfen, ein anderer hätte es getan.
Es gibt keine großen, viele Millionen ergreifenden Ideologien mehr? Oh, doch: Der Wachstumsglaube, basierend auf den Ziffern des Bruttosozialprodukts, ist eine Ideologie, und zwar eine, die die Welt zugrunde richten kann. Mit dieser Problematik hat sich die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth befasst. In ihrem Buch "Die Donut-Ökonomie" (so der Titel der deutschen Ausgabe) schreibt sie, Individuen, Unternehmen und Politiker müssten das Ziel vor Augen haben, "to do no harm", der Natur und den Mitmenschen nichts anzutun. Produkte entwerfen, Dienstleistungen einrichten, Gebäude errichten und Unternehmen so konzipieren, dass sie der seit Langem gebeutelten Erde möglichst wenig Schaden zufügen. Machbar sei es.
An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.