Atommeiler:Gefährliche Baumängel

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Frankreichs Atomindustrie steckt in ernsthaften Schwierigkeiten. Die Druckgefäße neuer Meiler haben möglicherweise gravierende Fehler.

Von Christopher Schrader

Die Situation verlangt nach einer starken Geste. Je nach politischer Einstellung könnte das Händereiben oder Hände-über-dem-Kopf-zusammenschlagen sein. Beim Vorzeigeprojekt der französischen Nuklearindustrie, dem im Bau befindlichen Reaktor Flamanville 3, gibt es erneut erhebliche technische Probleme. Der Stahl des Druckgefäßes, das später die Kernspaltung umschließen soll, weist nicht die erforderliche Festigkeit auf. "Es ist eine ernste Abweichung bei einer kritischen Komponente der Anlage", sagt der Chef der französischen Atomaufsicht ASN, Pierre-Franck Chevet. Seine Behörde hat zudem neue Tests angeordnet, bei denen ein Reaktordeckel geprüft werden muss, der für ein anderes Kernkraftwerk der gleichen Baureihe vorgesehen ist. Das Problem ist, dass der Reaktordeckel bei diesen Tests zerstört wird.

Die neuen Untersuchungen bringen für Flamanville nicht nur eine weitere Verzögerung mit sich, sie könnten auch gewaltige Zusatzkosten bedeuten, wenn das bereits installierte Druckgefäß umgebaut werden muss. Das könnte sich auch auf Projekte in England und China auswirken, wo baugleiche Reaktoren entstehen sollen. Das Druckgefäß, das nun zerstört werden muss, war für die Anlage Hinkley Point C in England vorgesehen. Dem baugleichen Kraftwerk in Olkiluoto in Finnland hingegen stehen keine weiteren Verzögerungen bevor, weil sein Reaktorgefäß in Japan gefertigt wurde; die fragwürdigen Bauteile der anderen Reaktoren sind französischer Produktion. Deutschland wäre indirekt betroffen, weil Flamanville 3 das umstrittene Kraftwerk Fessenheim im Elsass ersetzen soll. Die seit 1977 laufenden Meiler müssten womöglich länger als geplant am Netz bleiben. In Frankreich hat sich der Fall zu einer politischen Affäre entwickelt. Einen Höhepunkt erreichte sie vor einigen Tagen, als Le Canard Enchaîné und Le Monde berichteten, der Hersteller Areva habe die Stahlprobleme bereits 2007 gekannt. "Warum hat die Firma keine Untersuchungen gemacht, bevor das Reaktordruckgefäß installiert und verschweißt wurde?", fragt der französische Nuklear-Experte Yves Marignac von der Organisation Wise-Paris. "Insgesamt zeigt der Vorgang erneut, dass die mit dem Neubau von Atomkraftwerken verbundenen technischen und wirtschaftlichen Risiken nicht kalkulierbar und nicht akzeptabel sind"", sagt ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Geradezu empört äußert sich Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag: "Dass ein Herzstück eines Atomkraftwerks verbaut wird, ohne vorher richtig geprüft worden zu sein, grenzt an Irrsinn. Es wirft die Frage auf, was auf dieser Baustelle sonst noch durchgewunken wurde."

Das Reaktordruckgefäß muss 350 Grad Celsius, 176 Bar Druck und intensive Strahlung aushalten - für geplante 60 Jahre. Es ist ein zylindrischer Stahltank, knapp 13 Meter hoch, fast sechs Meter breit, 500 Tonnen schwer. Oben und unten schließen ihn Kuppeln ab, die 116 Tonnen wiegen. Diese Teile sind in der Schmiede Creusot Forge, einer Areva-Tochter, gefertigt worden, offenbar bereits 2006. Die Firma hat damals, das enthüllte laut Marignac vor zwei Wochen eine Parlamentsanhörung, schlechteres Ausgangsmaterial als sonst verwendet. Der Verantwortliche ließ sich nicht mehr klären.

Laut technischen Dokumenten, aus denen die französische Presse zitiert, haben die Arbeiter dann nicht darauf geachtet, dass sich im zentralen Bereich der Kuppel Kohlenstoff ansammelte. Er wird dem Eisen im Stahl in geringer Menge zugesetzt, um es härter zu machen, aber eine größere Ansammlung führt wiederum zu einer Schwächung. In einem Bereich von 1,2 Metern Durchmesser, erklärt Yves Marignac, liege der Kohlenstoffgehalt bei 0,3 Prozent, erlaubt sind 0,22 Prozent.

Das führt zu messbaren Problemen. Der einschlägige Test auf die sogenannte Kerbschlagarbeit misst, wie viel Energie ein fallender Hammer braucht, um standardisierte, eingekerbte Proben des Materials zu durchschlagen. Um das zu ermitteln, hat Areva bereits einen Reaktordeckel zerstören müssen, der für ein inzwischen aufgegebenes US-Projekt gedacht war. Für weitere destruktive Tests, so hat Areva das im April vorgeschlagen und ASN hat es akzeptiert, wird nun der für Hinkley Point vorgesehene Deckel genutzt.

Es gibt ernste Hinweise, dass Areva von den Problemen schon 2006 wusst

Als das vor einigen Monaten bekannt wurde, rechtfertigten sich die Firmen zunächst mit einem Hinweis auf verschärfte Sicherheitsanforderungen. Der Auftraggeber von Flamanville, der staatliche Stromkonzern Électricité de France (EDF), behauptete nach den bis 2005 geltenden Regeln seien die Stahlproben in Ordnung. ASN widersprach kühl, die Proben verfehlten auch frühere Standards.

Nun aber gibt es ernste Hinweise, dass Areva von den Problemen schon 2006 wusste. Damals wurden Proben am Flamanville-Reaktordeckel genommen und chemisch analysiert. Das habe nicht dem Kohlenstoff-Gehalt gegolten, erklärte Areva. Laut der technischer Dokumente hatte der Konzern aber ein solches Messergebnis erzielt. Die Daten "zeigten eine deutliche positive Absonderung von Kohlenstoff in der Mitte des Reaktordeckels", zitiert Le Monde aus einer internen Notiz des Reaktorsicherheits-Instituts IRSN, das der ASN zuarbeitet.

Müssen der Deckel und Boden des Reaktorgefäßes in Flamanville aufgetauscht werden, steigen die Kosten und die Fertigstellung wird verschoben. Eigentlich sollte der Reaktor seit 2012 laufen und ungefähr drei Milliarden Euro kosten; bis jetzt hat das Bauprojekt um die acht Milliarden Euro gekostet. Während ein Austausch des Deckels noch relativ einfach wäre, würde ein Ersetzen des Bodens viel komplizierter. "Das bringt neben enormen Kosten auch ungeahnte Sicherheitsfragen", sagt Marignac. "Der Behälter müsste ja danach wieder verschweißt werden. Sind solche Nähte genauso fest wie beim ersten Mal?"

Für Areva könnte das zum existenziellen Problem werden. Der hochdefizitäre Konzern soll ausgerechnet vom EDF-Konzern gerettet werden, der die Mehrheit der Sparte für den Bau von Kernkraftwerken übernehmen wollte, hatte Staatspräsident François Hollande im Juni verkündet. Der Stromkonzern bekommt dann auch das Problem, dass Flamanville unbedingt bis 2020 ans Netz muss. Sonst gehen ihm nämlich womöglich die von der britischen Regierung gewährten, sehr hohen Garantiepreise für die Stromabnahme aus der Anlage Hinkley Point C verloren.

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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