Renaissance der Kernenergie:Warum Boris Johnson auf Atomkraft setzt

Renaissance der Kernenergie: Auf zum Atom: Premier Johnson erkundet mit Entourage die Baustelle des AKW Hinkley Point C.

Auf zum Atom: Premier Johnson erkundet mit Entourage die Baustelle des AKW Hinkley Point C.

(Foto: Finnbarr Webster/AFP)

Die britische Regierung will gleich acht neue Reaktoren genehmigen. Auffällig sind die Pläne für den Atommüll in der neuen Energiestrategie - es gibt nämlich keine.

Von Alexander Mühlauer, London

Es kommt nicht oft vor, dass ein britischer Minister ein Land lobt, das nicht Großbritannien heißt. In der Brexit-Welt von Premier Boris Johnson hat das Vereinigte Königreich stets an erster Stelle zu stehen, doch seit Putins Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es in der Energiepolitik ein neues Vorbild: Frankreich. Die dortigen Atomkraftwerke hätten zwar ein Vermögen gekostet, sagte der britische Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng dem Telegraph, aber sie garantierten dem Land ein Maß an Unabhängigkeit, für das es beneidet werde.

Autark sein, darum geht es jetzt, auch in Großbritannien. Die Regierung will das Land möglichst unabhängig von Energie-Importen machen - vor allem aus Russland. Um das zu erreichen, legten Johnson und Kwarteng am Donnerstag eine "Energiesicherheitsstrategie" vor. Im Mittelpunkt steht ein massiver Ausbau von Kernenergie und Windkraft. Beides soll dabei helfen, das Land bis 2050 klimaneutral zu machen.

Besonders bemerkenswert ist die Renaissance der Atomkraft. Während in Deutschland noch über eine mögliche Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken debattiert wird, hat sich die Regierung in London entschieden: Bis 2030 sollen acht neue Atomreaktoren genehmigt werden. Läuft alles nach Plan, sollen sie bis 2050 mit einer Kapazität von 24 Gigawatt ein Viertel des britischen Strombedarfs decken. Derzeit liegt der Anteil der Atomenergie bei 16 Prozent.

Wie schwer sich allerdings der Ausbau der Kernkraft gestaltet, zeigt ein Projekt, das sich in den vergangenen Jahren immer wieder verzögert hat: Hinkley Point C im englischen Somerset, dem ersten AKW-Neubau seit zwei Jahrzehnten auf der Insel.

Renaissance der Kernenergie: Blick auf die Baustelle von Hinkley Point C.

Blick auf die Baustelle von Hinkley Point C.

(Foto: Ben Birchall/picture alliance / empics)

Ursprünglich sollte das Kraftwerk bereits 2017 fertig werden, doch daraus wurde nichts. Nun sollen die zwei geplanten Druckwasserreaktoren 2026 und 2027 in Betrieb gehen. Ob das gelingt, ist offen. Erst in der vergangenen Woche hatte der für den Bau zuständige französische Energiekonzern EDF davor gewarnt, dass der Zeitplan erneut in Gefahr sei. Hinzu kommt: Die Kostenschätzung liegt mittlerweile bei 23 Milliarden Pfund - und damit um fünf Milliarden höher als geplant.

Johnson will dennoch daran festhalten. Genauso wie an einem weiteren EDF-Projekt an der englischen Ostküste, dem AKW Sizewell C. Auch auf der walisischen Insel Anglesey soll ein neues Kernkraftwerk entstehen. Dort herrscht allerdings Baustopp, nachdem sich der japanische Konzern Hitachi zurückgezogen hat. Es gibt bereits Interessenten aus den USA, die Angebote für die Übernahme des AKW-Baus abgegeben haben, doch die Regierung ist sich offenbar uneins. Während das Wirtschaftsministerium die neue Kernkraft-Offensive als unverzichtbar für das Erreichen der Klimaziele hält, gibt es im Finanzministerium die Sorge, dass der Bau neuer Atomkraftwerken am Ende zu teuer werden könnte.

Johnson will davon allerdings nichts wissen. Er hat sich voll und ganz der Kernenergie verschrieben. Große Hoffnungen setzt der Premier in sogenannte Mini-Meiler. Die Kleinkraftwerke werden derzeit federführend von Rolls-Royce entwickelt und sollen gemessen an den Baukosten von Hinkley Point C sehr viel wirtschaftlicher sein.

Johnson will sein Land zu einem "Saudi-Arabien der Windkraft" machen

Großen Widerstand hat Johnson bei all seinen Atom-Plänen nicht zu erwarten. Im Vergleich zu Deutschland gibt es in Großbritannien nur wenige Kernkraft-Gegner. Eine große öffentliche Debatte über das Für und Wider von Atomenergie ist nicht zu erwarten. Und so findet sich im Strategiepapier der Regierung auch kein Wort zur Endlagerung von Atommüll. Der Bau eines AKW gilt in Großbritannien ähnlich wie in Frankreich eher als klimafreundliches Vorhaben.

Um in diesem Sinne noch grüner zu werden, will die Regierung auch den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben. Geht es nach Johnson, soll Großbritannien ein "Saudi-Arabien der Windkraft" werden. Bis 2030 sollen bis zu 50 Gigawatt aus Offshore-Anlagen kommen - derzeit liegt der Anteil bei knapp zehn Gigawatt. Weil Wind aber nicht reicht, um sich kurzfristig von Energielieferungen aus autoritären Staaten zu lösen, sind neue Öl- und Gasförderprojekte in der Nordsee geplant.

Der Druck auf die Regierung, möglichst schnell zu handeln, wird immer größer. Wie in anderen Ländern Europas sind auch in Großbritannien die Energiepreise stark gestiegen. Von einer cost of living crisis ist die Rede, die Inflationsrate liegt mittlerweile bei 5,5 Prozent, Tendenz: steigend. Anders als die Europäische Zentralbank hat die Bank of England allerdings schon gegengesteuert und den Leitzins angehoben, zuletzt auf 0,75 Prozent.

Großbritannien ist weitaus weniger von russischer Energie abhängig als Deutschland

Fest steht: Die Lebenshaltungskosten werden steigen. Da sind nicht nur die Strom- und Gasrechnungen, die laut Aufsichtsbehörde Ofgem für einen Haushalt im Durchschnitt um 700 Pfund pro Jahr teurer werden, also umgerechnet 820 Euro. Da ist auch die Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen und Konzerttickets, die wegen der Corona-Pandemie gesenkt wurde, aber nun wieder bei 20 Prozent liegt.

Seit dieser Woche sind auch die Sozialversicherungsbeiträge gestiegen. Die Einnahmen sollen dem chronisch unterfinanzierten National Health Service (NHS) zugute kommen, der für die Gesundheitsversorgung im Land zuständig ist. Das Finanzministerium hat zwar ein Entlastungspaket vorgelegt, das Spritpreissenkungen und Erleichterungen für Geringverdiener enthält, aber selbst Johnson hat bereits eingesehen, dass dies nicht genügen wird, um die Not der ärmeren Menschen im Land zu lindern.

Immerhin einen Pluspunkt kann Johnson in der europaweiten Debatte über einen Importstopp für russische Energielieferungen für sich verbuchen. Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten ist Großbritannien weitaus weniger abhängig von Putin. Lediglich vier Prozent des britischen Gasbedarfs kommt aus Russland, beim Öl sind es acht Prozent. Und so entschied die Regierung bereits vor einem Monat, Ölimporte aus Russland bis zum Ende dieses Jahres zu stoppen. Einfuhren von Gas sollen so bald wie möglich auslaufen. Ein genaues Datum gibt es - anders als bei den AKW-Plänen - noch nicht.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusKarriere
:"Auch als leise Person kann man Erfolg haben"

Chefinnen und Chefs sind oft selbstsicher, kommunikativ und gesellig. Aber auch Introvertierte können Karriere machen. Sie müssen nur wissen, wie. Und wie nicht.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: