Alles hängt von der Wolke ab. Bläst der Wind die Luft und damit die radioaktive Strahlung von dem japanischen Havarie-Kernkraftwerk Fukushima nach Osten auf das offene Meer, kann Japan erst einmal aufatmen. Dreht der Wind aber und trägt er die nukleare Strahlenbelastung in die nur etwa 250 Kilometer südlich vom Katastrophenreaktor gelegene Hauptstadt Tokio, "dann hat die Katastrophe Auswirkungen auf die Weltwirtschaft." Das sagt Markus Schürmann von der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Japan.
Die Region der Hauptstadt beherbergt 35 Millionen Menschen, das ist mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes. Die Region um Tokio ist das wirtschaftliche Herz Japans. Sie steht für fast ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts. Die meisten Firmen haben hier ihren Sitz - und so kommt es, dass in der Hauptstadt-Region auch die meisten der etwa 500 deutschen Firmen ihre Zentralen haben. Einige haben ihre Büros dort schon verlassen.
Zulieferer in der Krisenregion
Die große Frage ist, wie lange die japanischen Firmenzentralen noch handlungsfähig sind. "Wenn die nicht mehr entscheiden können, haben wir ein neues Szenario", sagt Detlef Rehn von der GTAI, der Wirtschaftsfördergesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Der Raum Tokio markiert das nordöstliche Ende der wichtigsten Industrie und Wirtschaftsregion des Landes. Die zieht sich über einige hundert Kilometer in südwestlicher Richtung bis zu den Städten Kobe oder Osaka. Hier haben die Autokonzerne wie Toyota ihre Fabriken, die Elektronik-Industrie sitzt hier. Westlich von Tokio liegen auch die meisten Millionenstädte des Inselreichs.
Die wirtschaftliche Kernregion Japans liegt in einiger Entfernung von der jetzigen Krisenregion im Norden der Hauptinsel Honshu. Die vom Erdbeben, dem Tsunami und von der Atomkatastrophe betroffenen drei Präfekturen sind industriell von untergeordneter Bedeutung. Sie tragen nach Informationen der Commerzbank etwa 6,5 Prozent zum japanischen Sozialprodukt bei.
Das mag wenig sein. Aber in der Krisenregion haben Zulieferer für die Auto- und Elektronik-Industrie ihre Fabriken; so sind Störungen bei der Belieferung von Fabriken im ganzen Lande möglich. Dagegen heißt es in Berichten aus Japan, die beiden Präfekturen Chiba und Kanagawa, die in der westlichen und südlichen Nachbarschaft von Tokio liegen, seien von den Zerstörungen nur wenig betroffen.
Die meisten Wirtschaftsexperten, die sich über die Wirkungen der Katastrophe auf die japanische Ökonomie wie auf die Weltkonjunktur Gedanken machen, greifen auf Daten und Erfahrungen zurück, die das Land 1995 nach dem katastrophalen Erdbeben in der westjapanischen Stadt Kobe machten. Doch in diesem Fall ist einiges anders. Neben der Zerstörung von Immobilien und Infrastruktur droht jetzt auch noch eine radioaktive Katastrophe. Japans Zukunft hängt vor allem davon ab, wie katastrophal die Wirkung der Atomexplosionen von Fukushima sind.
Viertel der nuklearen Stromerzeugung liegt still
Sicherheitshalber hat die Bank von Japan die Wirtschaft des schockierten Landes inzwischen mit viel Geld geflutet. Das soll den Absturz in eine apokalyptische Stimmung verhindern. Die Erwartungen der Menschen sind schon jetzt schlecht. Der Nikkei-Index, der 225 japanische Aktien umfasst, stürzte am Dienstag um drastische zehn Prozent ab und vermittelt den Eindruck, ein schwerer Einbruch stehe bevor.
Doch die Vorhersagen der Auguren sind gar nicht so desaströs. So erwartet Mitsumaru Kumagai, Analyst beim Daiwa Institute of Research, dass das Erdbeben und die Einschränkungen bei der Stromversorgung in diesem Jahr zu einer Reduzierung des Wirtschaftswachstums um etwa 0.6 Prozent führen wird. Kein schlechter Wert angesichts der Tatsache, dass es schon zur Schließung von Fabriken und Ölraffinerien kam.
Besonders das Abschalten zahlreicher Kernkraftwerke hinterlasse eine deutliche Wirkung im Land, sagen die Experten. Nach Angaben der japanischen Atomsicherheitsbehörde wurden aufgrund des schweren Erdbebens zehn Atomkraftwerke vom Netz genommen. Darüber hinaus liefern drei wichtige Meiler aus Wartungsgründen keine Energie. Ein knappes Viertel der gesamten nuklearen Stromerzeugung des Landes liegt im Moment still.
Schon jetzt komme es zu ständigen Produktionsausfällen mit Auswirkungen auf die Industrieproduktion, wissen die Experten der Commerzbank. Diese Ausfälle seien besonders stark in der Region Tokio. Sie würden die Wirtschaft im ersten Halbjahr "merklich belasten". Erst in der zweiten Jahreshälfte dürften die Reparaturarbeiten und zunehmende Bauinvestitionen "für ein höheres Wachstum sorgen", prophezeien die Ökonomen der Commerzbank.
Die italienische Bank Unicredit erwartet, dass die folgenreiche Erdbebenkatastrophe in den nächsten zwei bis drei Monaten einen "deutlichen Rückgang der japanischen Wirtschaftsaktivität" bringen wird. Es werde zu Produktionsausfällen und zu einem vorübergehenden Einbruch der Einzelhandelsumsätze kommen. Doch im Gegensatz zum Kobe-Erdbeben komme es in diesem Fall auch noch zu Stromausfällen. Die seien "ein erschwerender Faktor". Japan stehe vor einem Quartal der Wirtschaftsschrumpfung. Aber danach werde es wieder bergauf gehen. Dann kommt der Aufschwung.
Die amerikanische Citi-Bank erwartet für Japan nur einen kurzfristigen Absturz. In den Monaten März und April, so rechnen deren Analysten vor, werde das Wirtschaftswachstum um ein bis zwei Prozent zurückgehen. Doch schon in der zweiten Jahreshälfte werde der Wiederaufbau des Landes zu einem Wachstumsimpuls führen, der für das gesamte Jahr sogar ein geringes Wachstum von 0,2 Prozent möglich machen könnte.
Das passt kaum zu den Erwartungen im Ausland. Die weltweite Furcht vor dem drastischen Absturz Japans und vor den Auswirkungen der Atomkatastrophe auf die Weltwirtschaft hatte am Dienstag die Ölpreise weiter auf Talfahrt geschickt. Der Preis für ein Barrel (159 Liter) der Nordseesorte Brent fiel um 5,33 US-Dollar auf 108,34 Dollar. Auch der Preis für Rohöl der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) ging zurück. Die drohende Ausweitung der Atom-Katastrophe in Japan und ein damit verbundener Rückgang der Ölnachfrage in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt wird von den Experten als Grund für den Rückgang genannt. "Die Ölmärkte stehen unter dem Eindruck der Meldungen aus Japan", hieß es bei der Commerzbank. Die Entwicklung habe zur Folge, dass die Investoren derzeit kaum noch Risiken eingingen.
Begrenzte Auswirkungen
Die Fachleute sind sich darin einig, dass die Wirkungen der japanischen Katastrophe auf Deutschland in engen Grenzen bleiben werden. Japan ist nach den USA und China die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Der Anteil am Welthandel beträgt fünf Prozent. Aber das Land nimmt nur 1,5 Prozent der deutschen Exporte auf. Auch die Experten der Bank Unicredit glauben nicht an eine Sogwirkung der japanischen Katastrophe auf Deutschland. "Die deutsche Wirtschaft dürfte auch kurzfristig eher gering betroffen sein", sagen die Analysten. Allenfalls könnten deutsche Firmen darunter leiden, dass die Katastrophe zu Produktionsengpässen führt.
Indes hat die drohende Strahlenlast Tokios und seiner Bevölkerung inzwischen bereits den internationalen Flugverkehr beeinträchtigt. Die Lufthansa steuert die japanische Hauptstadt nicht mehr an und verlagert Flüge in Städte im Süden des Landes. Auch Air China und EVA Airways strichen am Dienstag Verbindungen in die japanische Hauptstadt.
Der Spezialchemiekonzern Lanxess hat sein Büro in Tokio vorübergehend geschlossen. Schon am Tag zuvor hatte der Chemieriese BASF seine Produktion in Japan heruntergefahren. Dies gelte für alle 27 Produktionsstätten, sagte eine Sprecherin in Ludwigshafen. Die Produktionsstandorte von BASF liegen in Japan quer über das Land verteilt, die Hauptverwaltung befindet sich in Tokio.
Deutsche Konzerne sehen nach den dramatischen Ereignissen in Japan ihre dortigen Mitarbeiter derzeit außer Gefahr. Das gilt für Daimler ebenso wie für Siemens, Bosch oder Bayer. Viele haben Krisenstäbe eingerichtet. Daimler hat die Produktion seines japanischen Nutzfahrzeuggeschäfts gestoppt. Auch die Verwaltung der japanischen Tochter Mitsubishi Fuso bleibe aus Sicherheitsgründen in dieser Woche geschlossen, sagte ein Unternehmenssprecher. Ein Großteil der Angehörigen deutscher Mitarbeiter sei schon auf dem Rückweg.
Beim weltgrößten Autozulieferer Bosch sind die ersten 200 Mitarbeiter und deren Angehörige aus bereits Japan ausgeflogen worden. Der Stuttgarter Konzern hat 36 Standorte mit rund 8000 Beschäftigten in Japan und ist der größte deutsche Konzern im Land. Auch hier heißt es erst einmal: Nichts geht mehr.