Süddeutsche Zeitung

Atom-Altlasten:Atomausstieg: Hier kommt die Rechnung

Lesezeit: 4 Min.

Analyse von Michael Bauchmüller und Varinia Bernau

Nur wenige Zentimeter ging es voran, Minute um Minute. Letztlich brauchte der Kran 14 Stunden, um den 135 Tonnen schweren Stahlzylinder in das nur wenige Meter Luftlinie entfernte Becken zu transportieren. Mehr als 30 Jahre lang war dieser Zylinder das Herzstück des Atomkraftwerkes Obrigheim: der Bereich, in dem die Kettenreaktion stattfand, die seit Ende der Sechzigerjahre bis 2005 etwa 850 000 Haushalte mit Strom versorgte. Nun wird dieser Reaktordruckbehälter in dem Becken zerlegt, in dem zuvor bereits die Brennelemente abgeklungen sind. Es ist zwar nur ein Bruchteil der insgesamt 275 000 abzubauenden Tonnen an Stahl und Beton, aber wegen der Strahlenbelastung der heikelste. Das braucht Zeit.

Und es ist nur eine Etappe im aufwendigsten Abrissprojekt der Republik. Ziemlich genau fünf Jahre ist es her, dass sich die Bundesregierung zum Ausstieg aus der Kernkraft entschloss - unter dem Eindruck der Fukushima-Katastrophe. Neun der damals 17 AKWs sind mittlerweile abgeschaltet, die übrigen folgen bis spätestens 2022. Jahrzehnte werden vergehen, um strahlende Orte in grüne Wiesen zu verwandeln, weitere Jahrzehnte, um ein Endlager zu finden und zu füllen. Das größte Entsorgungsprogramm in der Geschichte des Landes wird Milliarden verschlingen, aufzubringen von den Konzernen. Es sind Milliarden, die sie vielleicht nicht haben werden. Allein eine Milliarde kostet schätzungsweise der Rückbau eines AKWs. Was das Endlager kostet, weiß keiner.

Der Zahltag naht - und den Konzernen geht es schlecht wie nie

Das Kraftwerk in Obrigheim, zwischen Heidelberg und Heilbronn am Neckar gelegen, ist eines von fünf, die dem Energiekonzern EnBW gehören. Wenn Ingenieure und Strahlenschützer dort den Reaktordruckbehälter zerlegt haben, werden sie sich an den Betonmantel machen, der diesen einst umgeben hat. Die Abrissarbeiten an einem AKW umfassen kleine, kaum kontaminierte Rohre, aber auch dicke, stark verseuchte Wände. Mit Sandstrahlern, Fräsen und Laserstrahlschneiden zerlegen die Männer in ihren Schutzanzügen die Anlagen Stück für Stück. Die Arbeit an sehr stark belasteten Bauteilen erledigen Roboter. Teilweise wird sie auch unter Wasser verlegt, der Strahlung wegen.

Biblis, Brunsbüttel, Unterweser - überall im Land sammeln die Unternehmen derzeit Erfahrungen mit dem Rückbau von Reaktoren. Sie stellen fest, dass die Atomkraftgegner von einst nun auch beim Abriss die größte Skepsis mitbringen, aus Angst vor der Strahlung. Sie merken, dass es hierzulande zwar viel Wissen über den Aufbau von Atomanlagen gab, aber wenig über deren Abriss. Und sie erleben, dass ein kollektiver Atomausstieg ihnen auch Teile jener Substanz raubt, aus der sie den Ausstieg eigentlich hätten finanzieren sollen. Denn jetzt, da der Zahltag naht, geht es den Stromkonzernen schlecht wie nie.

Das liegt nicht nur am Atomausstieg. In Deutschland gibt es eher zu viele Kraftwerke als zu wenige, und die Konkurrenz durch Ökostrom wird stärker. Die Folge ist ein Überangebot an den Strombörsen und ein massiv fallender Preis im Großhandel. Selbst an Werktagen lässt sich die Kilowattstunde dort nur noch für zwei bis drei Cent verkaufen. Viele Kraftwerke machen Verluste. Frühere Gewinne aber sind längst in Form üppiger Dividenden an Aktionäre ausgeschüttet. Einst stolze Konzerne wie Eon und RWE müssen fürchten, dass die nukleare Altlast sie in die Knie zwingt.

Das Projekt Abriss rührt damit an Grundprinzipien der Wirtschaft. Üblicherweise gilt das Verursacherprinzip: Wer ein Problem verursacht, muss dafür geradestehen. Gut 38 Milliarden Euro haben die Unternehmen dafür an Rückstellungen gebildet. Mit Zins und Zinseszins soll das nicht nur für die grünen Wiesen reichen, sondern auch für die Endlagerung. Was aber, wenn die Konzerne pleitegehen, ehe der Müll sicher verstaut ist? Seit Monaten geht eine Regierungskommission dieser Frage nach. Noch im Februar will sie ein Ergebnis präsentieren. Diesen Dienstag will sie wieder zusammentreten - zehn Stunden lang.

Sie ringt um den Wert der Rückstellungen und ums Prinzip. Um den Wert, weil er je nach Annahmen stark schwankt. Die Unternehmen erwarten, dass sie das Reserve-Vermögen mit durchschnittlich 4,58 Prozent pro Jahr verzinsen können. Rechnet man das über die Jahrzehnte, sollen sie Kosten von 170 Milliarden Euro abdecken - so viel, so errechneten Wirtschaftsprüfer im Auftrag des Bundeswirtschaftsministerium, könnte die Entsorgung bis 2099 verschlungen haben, inklusive Inflation. 4,58 Prozent aber sind derzeit eine Traumverzinsung. Mit jedem Zehntel Prozentpunkt weniger schmilzt die erwartete Summe zusammen. Auch die Inflationsrate der Zukunft kennt niemand. Ob es die Unternehmen 2099 noch gibt, steht in den Sternen.

Ein Fonds könnte den Betreibern nach dem Abriss die Risiken abnehmen

Die potenzielle Milliardenlücke allerdings macht auch Aktionäre nervös und bewirkte zuletzt massive Einbrüche der Eon- und RWE-Kurse. Die Unternehmen würden sich der Altlast deshalb gern entledigen. Sie brachten eine öffentlich-rechtliche Stiftung ins Spiel, die alle Lasten schultern sollte - mit den Milliarden-Rückstellungen als Dreingabe. Das Verursacherprinzip hätte sich so erledigt: Mit Gründung der Stiftung wären sie alle Risiken los, selbst für den Fall, dass das Geld nicht reicht. Durchsetzen konnten sie sich nicht.

Ein Kompromiss bahnt sich an, ein "neuer Entsorgungskonsens". Demnach müssten die Firmen den Abriss der AKWs noch selbst stemmen, und zwar ohne Verzug. Doch sobald die Trümmer und die Brennelemente sicher verpackt sind, könnte ein Fonds den Rest übernehmen - und damit der Staat. Bis 2022 sollen die Konzerne hier rund die Hälfte ihrer Rückstellungen auflösen und einzahlen. Genaue Summen, Obergrenzen für die Haftung und Risikoaufschläge muss die Kommission noch aushandeln. "Das Ziel heute muss die Vermeidung des Totalausfalls durch eine bessere Absicherung der Risiken sein", heißt es im Entwurf ihres Schlussberichts. "Ohne eine bessere Sicherung der Finanzen für die Entsorgung droht die teilweise oder gar vollständige Sozialisierung der Verluste." Oder, wie ein Kommissionsmitglied sagt: "Die Frage ist, wie lange der Gaul, den man reiten will, am Leben bleibt." Vor Fukushima, in den guten Zeiten der Konzerne, hatte sich keiner diese Frage gestellt.

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SZ vom 23.02.2016
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